Dienstag, 10. Juli 2012

Jugend 1949 - eine erfundene Geschichte, aber möglich



Des jungen Gymnasiasten Rudolf's

 Leben mit den Mädchen

und dann als Schlosserei-

Praktikant

 

Dieses  ist der erste Teil, 
die Fortsetzung folgt im zweiten Post, 

-   siehe rechts und klick auf "Fortsetzung"                                                    

 

(Rollia ist Rudolf´s Spitzname bei den Mädchen).

von Aryaman Stefan, fertig 16.Juni, ergänzt am 10.Juli 2012

(am Ende des zweiten Blogs findet Ihr 

eine Liste der genannten Personen)



Prolog
Dieses soll eine Jugend-Geschichte werden, erfunden von Aryaman, geschrieben ab März 2003. Diese Geschichte ist also fiktiv. So eindrucksvoll wie in den beiden erfundenen Internaten Waldfels und Hochfels habe ich das Leben im Hermann-Lietz-Internat Bieberstein nicht erfahren, es war auch gut aber nicht so voll. Und im Lietz-Mädchen-Internat Hohenwerda war ich nur einmal für eine Stunde. In dieser Geschichte hier will ich eine Idee der Erziehung zu schönen, friedvollen und liebevollen Menschen versuchen — wobei ich eigentlich von “Erziehung” sehr wenig halte sondern eher davon, den Kindern (wie Hermann Lietz alle seine Schüler nannte) die Freiheit und Gelegenheiten zu bieten, sich voll nach den eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, sie darin nicht zu behindern. Meine Geschichte ist ein Ideal, eine Idee.

Wie seit langem gesagt wird, hat es in der Kulturgeschichte der Menschheit die Aufeinanderfolgen von Matriarchat und Patriarchat gegeben. JEAN GEBSER hat darüber geforscht und geschrieben. Er lässt die Folgen weiterlaufen in ein Integrat. Nun höre ich immer mehr, wie Kinder und Jugendliche die Kultur bestimmen. Wie jemand gesagt hat, entsteht ein Paidarchat (pais = Kind im Altgriechischen). Meine Geschichten werden immer mehr von der Beobachtung des Paidarchat´s bestimmt, merke ich nun, obwohl mir das früher nie bewußt war.

Ich glaube, daß die Geschichte vom jugendlichen Rudolf stark von buddhistischen Vorstellungen geprägt ist, vielleicht von der buddhistischen Psychologie und Pädagogik. In vielem entspricht sie nicht den üblichen Lebens-, Erziehungs- und Denkmustern im Westen, auch nicht in den Hermann-Lietz-Internaten. Sie spielt um 1949 in Westdeutschland. Sie ist ein Ideal.

Im ersten Teil dreht sich vieles um Cross dressing (CD) eines fast 13-jährigen Jungen, das heißt, er geht für ein halbes Jahr als Mädchen zu Mädchen in das Mädchen-Internat und kleidet sich entsprechend — auf Anregung der Schulleitung des Knaben-Internats, in dem er meistens lebt —, um seine Erfahrungen zu erweitern. Damals waren die Unterschiede der Kleidung zwischen Mädchen und Jungen viel größer als heute (2004), wie ich dies schreibe. Insofern ist es auch eine historische Erinnerung.

Dann, ein Jahr später geht dieser Junge für drei Monate als Praktikant in eine Schlosserei und erlebt das krasse Gegenteil des vorigen Experiments. Doch er bewahrt sich seine sehr eigenen Erfahrungen aus der Zeit als Mädchen.

Wie ich diese Geschichte entwerfe bin ich 71 und schon elf Jahre lang Rentner. Geleitet wird meine Geschichte von meiner Liebe zu Menschen, besonders von meiner Liebe zu Frauen, denen ich als Mann, der ich bin, schon immer nahe sein will. Meine Freundin Hannah sagte neulich zu mir, “nun wirst du aber richtig zum Mädchen,” als ich einen Unterrock mit gehäkeltem Rand unter meinen bunten Rock ziehen wollte. Dieser Spruch hat mich sehr berührt, denn recht hat sie: den Frauen und Mädchen fühle ich mich sehr nahe und kleide mich schon lange nur in bunte Röcke — eine Hommage ans Weibliche? So zu sein macht mir viel Spaß.

Doch meine Geschichte ist auch geleitet von vielen Ideen des geistigen Wachsens von uns Menschen überhaupt. In jedem einzelnen Menschen sind sowohl die Frau als auch der Mann in fast gleichem Ausmaß vertreten, und es sind eher die gesellschaftlichen Umstände, die einen so oder so aussehen, handeln und sich fühlen lassen.
Von Frauen habe ich immer wieder gehört, daß es für eine Frau schöner ist, die Frau im männlichen Mann zu finden und zu erleben als dem Nur-Mann allein zu begegnen. Den Weg zur Frau im Mann — im eigenen Mann — findet Rolli, der Held der Geschichte, dabei sind die  Mädchen eine wichtige Kraft.

 Die Vorbereitungen im Schloss Waldfels
Immer mehr Stimmen nehmen teil an den Nachtischs-Gesprächen im Speisesaal — das ist der alte Rittersaal. Helle Kleinkinderstimmen, Jungenstimmen der Zehn- bis Sechszehnjährigen, Frauen-, Jünglings- und Männerstimmen — verworren klingt es für mich immer noch.

Das Essen fand ich nicht besonders, es bestand einfach aus Salzbohnen mit Kartoffeln, eine kleine Frikadelle, dazu eine Fettsoße. Und hinterher bekamen wir einen weiß-gelben Pudding mit zäher roter Fruchttunke, und dann konnten wir uns noch einen Apfel nehmen. Na ja, das Leben ist recht einfach hier im Jungen-Internat “Waldfels”. Noch kein halbes Jahr bin ich hier, endlich habe ich die Familie mit den vielen kleineren Geschwistern hinter mich lassen können. Hier kann ich allein sein, wenn es auch eine Menge von Pflichten gibt, die jeden in Anspruch nehmen. Und hier gibt es das Lernen in den wissenschaftlichen, handwerklichen und sportlichen Fächern, besonders die Handwerke ziehen mich an.

Obwohl eine Schule mit 75 Schülern, 15 Lehrern und ihren Familien und noch weiteren Hausangestellten eine strenge Ordnung braucht: für mich ist es leichter und schlichter hier als in meiner Familie zuhause, später würde ich sagen: es war etwas mönchisch auf Waldfels.

Eine kleine Glocke, der Heimleiter steht auf und es wird ruhig. Er sagt ein paar lobende Worte über das Essen — wie immer —, wünscht uns einen schönen Nachmittag und hält uns an den Stühlen fest mit den Worten, “heute ist noch etwas zu sagen, ich bitte alle Jungen und Erzieher noch hier zu bleiben.” Stühlerücken der fortgehenden Familien und anderen, die sich nicht angesprochen fühlen.

“Aus der Stadt habe ich eine Bemerkung zugetragen bekommen, ja ich möchte sagen, eine Beschwerde, die hier weiterzugeben ist. Am letzten Wochenende haben sich ein paar Jungen von uns, aus den älteren Klassen, nicht so benommen, wie es sich gehört. Einige Frauen und Mädchen, besonders Mädchen, fühlten sich belästigt und ungehörig und frech angesprochen, ja — wie sie sagten — angepöbelt. Das war abends nach dem Kinofilm. Hier soll nicht gesagt werden, um wen es sich dabei handelt, wer mit mir noch darüber sprechen will: nachher um drei Uhr habe ich eine Stunde dafür eingeräumt. Kommt bitte.

“In den nächsten Minuten will ich aber zu euch erst etwas zur Stimmung zwischen Männern und Frauen sagen, und dann will die Lehrerkonferenz einen erzieherischen Lösungsvorschlag machen.

“Drei Jahre ist es erst her, daß dieser schreckliche und grausame Krieg vorüber ist — in den Köpfen wütet er noch nach, und das wird noch sehr lange so bleiben. Unsere Schule hat es sich aber zur Aufgabe gestellt, an der Befriedung mitzuarbeiten. Alle seid ihr davon betroffen worden. Habt flüchten müssen, habt Verwandte und Freunde verloren, vielen ist der Vater in Felde geblieben oder verletzt und seelisch zerbrochen zurückgekommen. Manche sind ausgebombt und leben nun schon seit Jahren in sehr engen und provisorischen Verhältnissen. Einige ältere Schüler sind bei uns, die selbst als Soldat im Krieg waren und nun die Gelegenheit gefunden haben, das Abitur nachzuholen. Schwere Zeiten habt ihr erlebt. Und fast allen Menschen in Europa erging es so.”

Er macht eine Pause, und wie er die vielen betretenen Jungen ansieht — aber es sind auch einige wütend oder beklommen —, da kommen ihm Tränen, er kann eine Weile nicht sprechen.

“Unfrieden herrscht nun zwischen Frauen und Männern, Mädchen und Jungen, Älteren und Jüngeren, zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten und Völkern. Fast jeder Mensch hat seelische Schäden behalten, die nur schwer zu heilen sind, die meisten wohl nie — auch wenn wir uns schon daran gewöhnt haben, scheinbar.”

Es ist im Herbst 1948 in einem Oberschul-Internat im Hessischen. Die Schule liegt in einem großen Wald und ist in einer alten und vor Jahren renovierten Burg auf einem Berg untergebracht. Von der Burg aus sehen wir ein paar Dörfer in den umliegenden Tälern, und zur Stadt fährt eine Kleinbahn in dreißig Minuten. Ich bin nun schon fast 13. Der Umzug von zuhause hierher hat mich erschreckt und viel in mir bewegt, doch nun bin ich sehr froh, hier zu sein. Ich bin nicht mehr in dem Maße Kind wie vorher. Hier will ich schließlich das Abitur machen und bis dahin die reichen Gelegenheiten nutzen, die die Lehrer und Mitschüler, das Land und die große Bibliothek mir bieten, bin begierig nach all den neuen Erfahrungen. Bin voller Lust, zu wachsen — in jeder Hinsicht. Ist das außergewöhnlich?

Der Heimleiter heißt Herr Kunze, aber er lässt sich von Freunden auch mit Bante anreden. Nach einer Pause spricht er weiter:

“Ich selbst hatte das große Glück, während des ganzen Krieges weit weg im Ausland zu sein. Es gab keinen Grund meinen Ort dort zu verlassen, um hierher zu eilen und — wie es hieß — in der Not dem Vaterland beizustehen. Ich sah keine Wirkungsmöglichkeiten.

“Doch nach dem Krieg kam schnell ein Brief von der Schulleitung, die mich rief um die Heimleitung zu übernehmen, das Schulleben wieder in Gang zu bringen und für neue Lehrinhalte offen zu sein. Man suchte jemanden, der nicht von den Kriegswirren geschädigt war.”

Dieser Mann hat eine Ruhe, die ich bewundere. Noch nicht lange kenne ich ihn, und meistens nur aus der Ferne, hatte fast keine persönliche Begegnung, und schon war er für mich wie ein Vater, nein, wie ein angebeteter Meister, einer, der alles für mich sagen und tun kann. Ich bin ihm ganz hingegeben und voller Liebe zu ihm, die ich selbst nicht verstehe.

“Die Lehrerkonferenz hat einen ungewöhnlichen Vorschlag von mir aufgegriffen und weiter ausgefeilt, und Herr Mirkin wird das nun vorstellen, was wir uns ausgedacht haben.” Lächelnd setzt sich Herr Kunze und löffelt noch an seinem Pudding. Herr Mirkin steht nun auf. Er hat ein wetterbraunes Gesicht mit vielen Narben, die wie er uns mal erzählte von den Schlachten des letzten Krieges herstammen.  Jetzt ist Herr Mirkin ein Lehrer für alte Sprachen und Geschichte, steht auf und fährt mit einer Hand etwas aufgeregt an seiner Jacke runter. Es fällt ihm nicht so leicht wie dem Heimleiter, sich räuspernd beginnt er,

“Ich soll vorausschicken, daß wir meistens nicht recht wissen, wie der andere Mensch eigentlich ist, wie er denkt und fühlt. Na ja, das ist nichts Neues. Schwieriger wird es, wenn Männer die Frauen und Frauen die Männer verstehen wollen. Ja eigentlich haben wir Männer wenig Hochachtung vor Frauen, und die Frauen kaum mehr Hochachtung vor Männern.

“Und nun sind in diesem Internat nur Jungen, und es gibt wenig Möglichkeiten mit Mädchen frei und liebevoll zusammen zu kommen, ihre Art kennen und schätzen zu lernen. Es hat seine Bedeutung, daß hier nur Jungen sind und in dem Internat “Hochfels” nur Mädchen, das Leben in der Schule ist ruhiger als wenn sie gemischt wäre. Hier kann jeder Schüler, und in Hochfels jede Schülerin mehr an sich und für sich selbst arbeiten, und es gibt weniger Reibereien und Unverständnisse.

“Dennoch denken wir uns, daß mehr Kontakte nötig wären. Denn das Vorkommnis in der Stadt zeigt uns, daß wir Lehrer eine Aufgabe noch nicht richtig verstanden und erfüllt haben. Das Unverständnis der Jungen für Mädchen und Frauen ist sehr groß.

“Man könnte daran denken, daß die Mädchen und Jungen sich häufiger treffen sollten, aber das wären immer nur Sonntags-Erfahrungen. Es kann nicht zu tieferen Erfahrungen kommen.

“Tiefere Erfahrungen sind aber möglich, wenn einzelne Jungen für eine gewissen Zeit bei den Mädchen leben würden, und einzelne Mädchen bei den Jungen. Also wenn für einige Monate ein paar Hochfels-Mädchen hierher kommen würden und umgekehrt, im Austausch sozusagen. Hochfels und Waldfels gehören ja zusammen, gehören zu demselben Heimschul-Verband.

“Und nun wird´s schwierig, weil es nicht in unsere übliche Denk- und Gefühls-Muster passt, nicht in unsere üblichen Vorstellungen passt. Und die Konferenz hat es sich sehr schwer getan, den Vorschlag von Herrn Kunze zu diskutieren und schließlich anzunehmen. Der Vorschlag lautet: das Mädchen, das hierher kommt, lebt ganz wie einer unserer Jungen, und der Junge, der nach Hochfels geht, lebt ganz wie eines der Mädchen dort. Das soll sehr weit gehen, und es wird auch für euch schwer sein, so etwas überhaupt zu denken.

“Nach langem Überlegen begeistert mich diese Idee. Es soll so weit gehen, daß ein Junge in allem, was möglich ist, als ein Mädchen lebt, und ein Mädchen in allem, was geht, als ein Junge. Also, und das wird für euch das Schwierigste sein, auch in der Kleidung.

“Der Gast in dem anderen Heim wird ein eigenes Zimmer bekommen, das ist fast die einzige Trennung. Sie oder er soll also nicht mit in den Dreier- oder Viererzimmern wohnen. Das ist eigentlich ganz selbstverständlich.

“Was wir wollen, ist: der Junge, der als Mädchen — sozusagen — in die Mädchen-Schule geht, soll ganz tief innen lernen und an sich selbst erfahren, was ein Mädchen, was eine Frau fühlt, was ihr geschieht, wie sie damit umgeht, wo sie Lösungen für typische Probleme finden kann.

“Ja, der Junge soll die typisch weiblichen Probleme und Freuden an sich selbst erfahren und lösen lernen — dabei aber nicht typisch männlich reagieren sondern lernen, während dieser Zeit typisch weiblich damit umzugehen. In allem geht das ja nicht, denn ein Junge kann natürlich nie die Regelblutung bekommen, das ist reine Frauensache, und manches mehr.

“Ihr sollt also lernen, wie ein Mädchen fühlt und dieses Leben erfährt, und wie es damit umgeht. Achtet darauf, nicht immer wieder in die früher bereits gelernten männlichen Lösungsformen zu fallen, seid weiblich, ganz und so weit es euch möglich ist: weiblich.

“Wir erhoffen uns damit, daß Jungen und später Männer mehr Verständnis für Frauen haben, mehr Liebe, nicht mehr diese altbekannte Härte und Intoleranz.”

Herr Mirkin setzt sich, aufatmend. Er sieht aus, als ob er eine schwere Aufgabe gelöst hat. Wir Jungen sind erstmal erschrocken. Ein Gemurmel beginnt, Betroffenheit ist da. Einer sagt, “ich habe nicht gewußt, daß es so schwierig ist, daß man sich solche Sorgen machen muß. Ich habe das alles nicht so ernst genommen.”

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Das ist das Ende dieser Ansage. Ein paar Tage später fragt Herr Kunze uns nach dem Essen, ob sich schon jemand denken könne, nach Hochfels zu gehen, für ein halbes Jahr. “Selbstverständlich müssen eure Eltern ja dazu sagen und das stützen. Es können gleichzeitig nur höchstens fünf gehen, drei wäre besser.” Ich melde mich, hatte die ganzen Tage schon gedacht, DAS ist eine Gelegenheit, neue Erfahrungen zu sammeln. Ich bin mit einigen Schwestern aufgewachsen und kann mir nicht denken, daß es für mich so schwierig sein könnte wie für einige Jungen, die als Einzelkinder gelebt haben.

Jemand fragt, ob das denn überhaupt ausreiche, wenn nur so wenige diese Erfahrungen machen würden. “Wahrscheinlich noch nicht, aber wir wollen einen Anfang machen. Vielleicht entwickelt sich daraus eine neue Form der Hinführung zum menschlichen Menschen, zum Menschen mit mehr guter Lebenserfahrung — auch in der Jugend. Für den Einzelnen wird es eine ganz große Erfahrung sein, er muß es an die Mitschüler weitergeben. Für die, die hier bleiben, wird es weniger sein, sie hören hinterher ja nur die Berichte, oder vielleicht — hoffentlich — erkennen sie auch, daß der Junge, der bei den Mädchen war, anders geworden ist, vielleicht reifer. Wir möchten gerne, daß er bewußt eine neue und schönere Art im Umgang mit den Mitmenschen ausbildet,” — und er betonte das “bewußt” — “denn so einfach unbewußt lernen ist sinnlos, ich möchte gerne, daß die Bewußtheit immer größer wird bei allen!”

Ein paar Tage danach soll ich zu Herrn Kunze kommen, es sind noch zwei Jungen meines Alters da, und einer, der ist zwei Jahre älter als ich. “Für dich, Rudolf (das ist mein Name) möchte ich gerne, daß du noch ein halbes oder ganzes Jahr wartest. Du bist noch nicht so lange bei uns. Ich denke, du solltest erst hier noch mehr Wurzeln schlagen — obwohl ich sehe, daß deine Wurzel schon recht weit in die Tiefe und die Breite reichen. Und ich möchte auch, daß du noch ein wenig älter bist, also vielleicht in einem halben Jahr, hm? Dennoch, wenn du willst, bleib´ hier sitzen während wir anderen das alles besprechen.”

Ich war erstmal enttäuscht. Doch alles, was Herr Kunze sagt, hat für mich volle Geltung. Gerne bleibe ich noch sitzen und höre zu, wenn auch etwas traurig.

Zwei von den anderen stammen wie ich aus kinderreichen Familien, einer hat lediglich eine viel ältere Schwester. Alle drei haben keinen Vater mehr, der Krieg hat sie vernichtet. Mein Vater ist heil zurück gekommen und hat eine gute Position in der neuen Wirtschaft. Er ist in der Lage, gelegentlich an die Schule zu spenden, Geld und Nahrungsmittel. Daher kommt der Pudding, den wir so oft essen — und ein Spitzname, den mir die anderen gegeben haben: Pudding.

“Ihr habt euch viel vorgenommen. Es wird ein tiefer Wandel in eurem Leben sein. Hinterher werdet ihr nicht mehr so wie vorher sein. Doch das ist allemal gut in eurem Alter. In Hochfels gibt es keine Männer als Lehrer und nur einen Mann als lehrender Handwerker. Alles werdet ihr von Frauen bekommen und lernen, nur der Schlosser, der die Schlosser-Gilde leitet, ist der einzige Mann dort. Laßt euch aber nicht verwöhnen — so wie Hahn im Korb. Dazu neigen Männer sehr leicht. Seid kein Hahn im Korb (er lacht).

 “Und damit das nicht passiert, und damit die Erfahrungen des Frau-Seins in eure Leben einsteigen, sollt ihr so weit es geht, Mädchen sein, euch ganz hineinfallen lassen. Nicht nur spielen sondern ganz SEIN! Ihr sollt euch kleiden wie Mädchen, sollt Interessen wie Mädchen haben, Freuden, Lüste und Schmerzen haben wie Mädchen, dem Schulplan der Mädchen folgen, euch schminken und schmücken wie Mädchen, sollt auch erfahren, wie es Mädchen in diesem Land ergehen kann, auch Häßliches werde ihr erleben. Ihr sollt aber NICHT solche Spiele machen wie Ritterlichkeit üben, den-Frauen-helfen oder so. Das gilt hier nicht, das wäre angelerntes männliches Verhalten. Wenn ihr aber frauliches Verhalten lernen und übernehmen könnt in dieser Zeit, tut es, auch wenn es angelerntes Verhalten ist. Da ihr es durchschaut, könnt ihr es hinterher leicht wieder abwerfen — oder in Überzeugung in euer Leben einbauen. Es muß nicht zu eurer Lebenspflicht werden, doch ihr habt es einmal erfahren, gelebt, und es bleibt und bestimmt euer Leben ein Stück.

“Habt dort keinen besonderen Kontakt mit den anderen Jungen von hier. Jeder von euch wird Mädchen unter Mädchen sein, mehr nicht. Zwar hat jeder Mensch im tiefsten Teil seiner Seele eine Art kleinen Beobachter, will ich mal sagen, der alles beobachtet, aber nicht wertet oder verurteilt; es wird einfach gespeichert in eurem Gehirn — das ist alles; und dieser Beobachter ist weder Junge noch Mädchen. Doch hier in Waldfels, und überhaupt, ich meine im normalen täglichen Leben, da seid ihr zuerst mal Jungen, auch ein wenig Mädchen, jeder Mensch ist so. Na ja, und auf Hochfels seid ihr Mädchen, ebenfalls nur außen.

“Insbesondere beobachtet euch selbst, wie ihr mit all den neuen Dingen umgeht. Wie eure Gedanken und eure Gefühle damit umgehen. Und wie gesagt: es gibt nichts zu werten oder zu beurteilen.

“Beobachtet auch, wie ihr selbst und die anderen auf Beleidigungen, Schmerzen und Ungerechtigkeiten reagiert, die euch als Mädchen angetan werden. Und seht, wie die Menschen sind, die euch als Mädchen schlecht behandeln, und was genau diese schlechten Taten gegen euch sind, was sie in euch selbst für Gefühle erzeugen. 

 “Fräulein Groth wird euch bei der Vorbereitung helfen. Sie ist noch fast so jung wie ihr und wird einiges besser verstehen als ich. Sie ist gelernte Schneiderin und kann euch besonders bei der Kleidung helfen. Sie wird euch mit allem Nötigen versorgen und euch für ein halbes Jahr ausrüsten. Sonst werdet ihr aber in Hochfels unterstützt und behandelt werden wie hier auch.

“Ich möchte euch nochmal bitten, das was ihr erlebt und seht, nicht zu werten sondern einfach so sein zu lassen. ES IST SO. Ihr seht wie wichtig mir gerade dies ist. Und wenn ihr Intimes erfahrt, gebt es nicht weiter — wie es hier auf Waldenfels ja auch ist. Brüstet euch nie in eurem Leben, daß ihr nun mehr wißt über Frauen, weil ihr dieses außergewöhnliche Erfahren hattet. Noch mehr als hier unter vielen Jungen werdet ihr bei den Mädchen erleben, daß jeder Mensch etwas ganz Eigenes und Besonderes ist. Die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen sind viel geringer als zwischen einzelnen Menschen ansich. Die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, die wir gewöhnlich sehen, haben viel mit der Kleidung zu tun, die nun gerade mal in dieser Zeit so ist, und mit gelerntem Verhalten, was auch in anderen Zeiten anders ist.

“Denn das meiste, was ihr erstmal als typisch mädchenhaft seht, ist in Wirklichkeit von unserer derzeitigen Kultur und Mode und Technik und der heutigen Gesellschaft so gemacht. Es handelt sich um Muster, wie die Psychologen sagen, also Muster oder eine Idee, wie ein Junge, wie ein Mädchen, eine Frau, ein Mann zu sein hat. In wenigen Jahrzehnten werden diese Muster anders sein, aber ohne solche Muster werden wir Menschen wohl nie sein. In eurem Leben werdet ihr gewiß noch zwei oder drei verschiedene solche Muster erleben.

“Ich könnte fast sagen: ihr werdet da Mädchen-Muster antreffen, mit denen ihr zusammenlebt. Doch das ist nun weit übertrieben, denn der andere Mensch wird unter diesen Mustern immer sichtbar, müht euch, den eigentlichen Menschen zu sehen! Er ist es wert, gesehen zu werden. Die Muster sind sehr an der Oberfläche und nicht so wert, gesehen zu werden.

“Der tiefere Sinn dieser Erfahrung ist: werdet euch klar darüber, daß das alles nur solche Muster sind, nichts Wirkliches. Man kann sich kaum daran festhalten, es ist nichts Verlässliches. Nachher werdet ihr also nie mehr sagen, Mädchen sind so ..., Frauen sind so ...”

Was Herr Kunze sagt — er spricht langsam und mit langen Pausen, und er hört sich an, wie wir darüber denken und fühlen, das Gespräch dauert eine ganze Stunde oder so —, was er uns sagt, bekommen wir auf ein Stück Papier geschrieben mit zum Nachlesen. Ich lege das Blatt in mein Tagebuch, und wie seine Ansprache hier steht, steht es auf diesem Blatt. Nach einem halben Jahr lädt er mich wieder zu so einer Besprechung mit zwei anderen Jungen ein, und nun bekomme ich die lange ersehnte Erlaubnis, im kommenden Mai (1949) für ein halbes Jahr nach Hochfels zu gehen. Während der Vorbereitungen bin ich ganz erregt und zittere manchmal.

Nun muß ich noch schnell erklären, was in unseren Schulen eine Gilde und was ein Stamm ist. In der Gilde ist ein Schüler ein paar Monate und lernt etwas aus einem Handwerk oder einer besonderen Sportart oder Kunst — neben der normalen Unterrichtszeit, meistens an drei Tagen der Woche nachmittags zwei oder drei Stunden. In einem Stamm leben Schüler aller Altersgruppen zusammen, essen zusammen, wandern zusammen und tun sonst allerlei zusammen. Ein Stammesvater — ein Lehrer oder anderer Mann aus der Schule — leitet den Stamm, zu ihm gehen wir zuerst, wenn wir ein Problem haben.

Nun mein erster Gang zu Fräulein Groth. Sie hat eine Zweizimmerwohnung in der Burg, wo sie auch eine Nähmaschine stehen hat, auf der sie unsere Sachen repariert. Oft bekommt sie Hilfe von Schülern, die bei ihr etwas schneidern lernen. Mein kleiner Freundeskreis in Waldfels, links ich:

Wir drei Freunde im Schloß Waldfels, links ich


Ich weiß, was Mädchen so anhaben, an meinen Schwestern sehe ich es. Beinlange Strümpfe trage auch ich oft, wie die meisten Jungen bis 14. Und jetzt habe ich also meine langen Strümpfe und den Strumpfhaltergürtel wieder mal angezogen. Sonst habe ich nichts passendes. Doch Fräulein Groth lacht nur und meint, diese groben Baumwollstrümpfe und diese grauen Strumpfhalter seien nichts für dieses Mädchen-Internat. Da ginge es feiner zu. Für Jungen, die im Gestrüpp rum kriechen, sei das in Ordnung, aber als Mädchen sollte ich das mal nicht tun.

“Ich werde dir mal zeigen, was dir passen könnte, und du suchst aus, was du mitnehmen willst. Nach deiner Hochfels-Zeit bring´ es zurück. Was fehlt können wir noch kaufen.” Und sie legt ein paar Kleider und Röcke auf den großen Tisch, den sie sonst zum Schneidern benutzt. Und Mädchen-Unterwäsche in feinen Stoffen und Rosa, Höschen, Hemden, Unterröcke, Mieder und Strumpfhaltergürtel und Strümpfe. Das soll ich tragen? Erschreckt sehe ich sie an. “Einen Büstenhalter brauchst du ja nicht, noch nicht,” sagt sie lachend, “doch ein kleines Mieder solltest du anziehen, das gehört sich dort so auch für kleinere Mädchen. Jedenfalls verlangen sie es so in Hochfels — ist ein vornehmes Schloß, kann ich dir sagen.”

 “Ich schlage vor, du ziehst mal was davon an, hier, ich gehe solange spazieren.” Die Strümpfe sind aus feiner hellgrauer Baumwolle, andere in weiß und hellbraun. Ich ziehe mich aus und binde mir zuerst den Strumpfhaltergürtel um den Bauch und knüpfe ihn mit ein paar Häkchen zu, die daran sind. An dem Gürtel baumeln zwei Paar Strumpfhalter-Bänder, Gummilitze mit Knopflöchern in regelmäßigen Abständen. Ich merke, schon fängt das Erlebnis an, schon bin ich ein wenig auf der anderen Seite. Ein Paar feine hellgraue Strümpfe streife ich über die Beine, so sorgfältig, wie ich es bei meiner Mutter oft gesehen habe, sie haben oben zwei weiße Knöpfe, an die ich die Strumpfhalter festmache. Die Strümpfe sind zwar lang, aber das oberste Handbreit der Schenkel bleibt dennoch nackt.

Also, das ist perfekt, sage ich mir. Ein passendes Unterhöschen finde ich nicht, also nehme ich einen von diesen feinen flatterigen rosa Seiden-Schlüpfern mir einer gehäkelten Spitze unten, na ja, also was das mit mir und meinem Weg nach Hochfels zu tun hat, weiß ich auch nicht, schöne Maskerade. Aber ich will mal weitermachen, ob das recht so ist, erkenne ich noch nicht. Einen Rock finde ich schnell, einen schönen, bunt karierten Faltenrock, der erinnert mich an einen Schotten-Kilt, das ist ein wenig männlicher. Ein Miederchen und eine weiße Bluse finde ich noch, und nun bin ich erstmal fertig, der erste Versuch.

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Es klopft, und Fräulein Groth kommt wieder. Ich trete ihr in diesem schönen, bunten Rock entgegen, leicht verschämt. — “Sieh dich mal in dem Spiegel an, ob du wohl schon mädchenhaft aussiehst?” “Eher wie einer dieser schottischen Soldaten, die in unserer Garnison liegen,” sage ich. “Geh mal umher, wie fühlt sich das an?” Ich gehe und bemerke das Eigenartige, wenn nichts zwischen den beiden Oberschenkeln ist und sie sich berühren. Das ist das Eigenartigste, fast wie nackt-Sein. Und wie diese feinen Strümpfe aneinander reiben und es ein wenig zischt, wenn sie sich begegnen. “Geh mal auf den Flur, geh mal in den Garten oder wohin du willst, und erlebe mal diese Kleidung.” Es wird luftig zwischen den Beinen, trotz der Strümpfe. Muß mir das unheimlich sein, muß ich das zulassen? Oder macht das Spaß?

Ich begegne anderen Jungen, und einer fragt mich, ob ich denn was darunter anhätte — so ja, das wäre also das erste Zu-nahe-Treten. Wie fühlt sich das an. Er kommt und will meinen Rock hochheben — das wäre schon das zweite. Ich halte den Rock fest und er stößt mich an eine Wand, ich stütze mich da ab und schnell ergreift er den Rockrand — ich schlage ihn auf die Hand und er schreit, “so darf ein Mädchen aber nicht sein.” Das war´s also, gleich fünf Beleidigungen in ein paar Sekunden. Habe ich das auch schon gemacht, oder habe ich mich gefreut, wenn andere Jungen so waren? Ja, genossen habe ich das schon und gefeixt. Und nun eine andere Beobachtung: einerseits finde ich sein Verhalten gemein, andererseits genieße ich auch etwas dieses Risiko, daß Jungen so mit mir Rockträgerin umgehen könnten, daß der Rock ein großes Risiko bringt — eben weil er nicht sicher verschließt wie eine Hose.

Zurück bei Fräulein Groth frage ich sie, was ist eigentlich Schreckliches daran, wenn Jungen so sind, schließlich habe ich ja diesen Rock freiwillig angezogen, wollte ich das selbst tun, und außerdem weiß doch sowieso jeder, was darunter ist. Warum gucken sie dennoch und warum ist das eine Beleidigung für mich. Sie ist voller Verständnis: “Nun bist du schon ein wenig wie ein Mädchen, hast schon Mädchengefühle. So schnell geht das, nur einen Rock anziehen. Und vielleicht ist das so eine uralte Regel, daß Mädchen sich so kleiden, und daß ihnen von den Jungen unter die Röcke geguckt wird — ich weiß nicht. Sag mal, was alles wollt ihr Mädchen denn verbergen? — doch auch die oberen Strumpfränder und die Halter, oder?, besonders die glänzenden Drahtklemmen. Diese schönen Klemmen werden wir noch besorgen. Und dennoch habt ihr einen Genuß daran, das alles anzuziehen und wenn die Jungen mal etwas zu sehen bekommen und ihnen der Penis davon steif wird, oder was ist das? Frag dich mal, wenn du in Hochfels lebst.

“Rocktragen ist nun mal so. Etwas ziemlich anderes als Hosen-Tragen.”

Mich damit abzufinden, daß ich Junge — als Mädchen verkleidet — einen anderen Jungen so schnell erregen kann, wird lange dauern. Doch es zeigt mir schon jetzt: es ist die Mädchen-Kleidung, die das macht, nicht ich. Ich denke, sie könnte auch einfach an der Wand hängen und das würde´s auch schon bringen — oder doch nicht? Doch ich selbst will ja die Erlebnisse als Mädchen haben. Und dies gehört dazu, denke ich.

Au ja, nun geht´s schon an´s Eingemachte, wie man so sagt. Nun hebt auch Fräulein Groth meinen Rock hoch und will sehen, ob ich alles richtig gemacht habe. Und da geht bei mir der Penis hoch und ich drehe mich verlegen um. “Ja dieses kleine rosa Höschen ist wohl recht, aber lange Strümpfe mußt du so anziehen, daß hinten die Naht genau korrekt in der Mitte ist. Da müßt ihr Mädchen euch gegenseitig helfen, erst die Strümpfe richten, dann festmachen. Und die grauen Strümpfe passen zuwar zu dem roten Schottenrock, aber du müsstest noch kräftige Sportsocken dazu anziehen.”

Fräulein Groth rafft ihren langen dunkelblauen Rock hoch und zeigt mir, wie sie´s macht. “Und das Höschen muß immer über den Strumpfhaltern sein, denn sonst bekommst du Probleme auf dem Klo.” Ihre beigen Perlonstrümpfe sind recht kurz, denke ich, kaum über die Mitte der Schenkel reichen sie. “Muß ich auch so kurze Strümpfe tragen?” — “das kannst du zwar selbst entscheiden, aber ganz lange Perlonstrümpfe gibt es selten, nur sehr junge Mädchen tragen sie. Je älter ein Mädchen ist, desto länger das Kleid und kürzer die Strümpfe. Wirst du noch alles lernen, ist einfach die Sitte.”

Ich frage: “Muß ich auch so ein flatteriges Höschen tragen? Wenn mein Penis immer wieder steif wird, sehen das alle.” Sie sagt, “mußt du, aber darunter kannst du ein festes Höschen, einen Slip tragen und den Penis nach oben tragen, das geht dann meistens.” Ein paar Wochen lang ziehe ich also diese zwei Höschen übereinander an, dann wird mir das zu viel, und ist mir auch nicht mehr wichtig, und dann später, nach drei Wochen in Hochfels, trage ich nur noch die flatterigen Mädchen-Höschen.

Ich suche mir dies und das aus, besonders ein leichtes grau-blaues Mantelkleid gefällt mir, das über die Knie geht und an dem viele blaue Knöpfe von oben bis unten sind, man kann es ganz aufknöpfen und wie einen Mantel anziehen. Ich bin damit aber verlegen und frage Fräulein Groth, ob das nicht zu weit ginge, ob dieses Kleid nicht zu mädchenhaft ist. “Nimm es mit, irgendwann willst du es vielleicht mal versuchen, solange laß es im Schrank hängen. In Hochfels sind die Kleiderschränke groß, größer als hier. Wir Frauen haben immer so viel Spaß an vielen Kleidern.” Ich suche mir eher Röcke aus als Kleider. Fräulein Groth gibt mir noch zwei Kleider mit und wiederholt, “irgendwann willst du sie vielleicht auch mal versuchen.”

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Schon zwei Wochen vor der Abreise trage ich oft, fast täglich, meine Röcke oder Kleider, am Ende auch im Unterricht. Doch vor der Abreise müssen wir noch zusammen in die Stadt fahren um einiges einzukaufen. Die beiden anderen Jungen sollen auch mitkommen. Ich merke, wir sind alle drei Jungen aus kinderreichen Familien, wir haben kaum Scheu vor so einem Unternehmen — weniger jedenfalls als die Einzelkinder denke ich. Franz sagt, “ich zittere vor Erregung bei dem allen. Zittern Mädchen auch so?” “Nicht so sehr” sagt Fräulein Groth, “aber oft genug schon, wenn sie zum Beispiel das erste Mal Perlonstrümpfe und richtige Strumpfhaltergürtel anprobieren oder den ersten richtigen Büstenhalter.” “Ist es, weil diese Kleidung so offen ist oder was?” frage ich. So gehen die Gespräche im Zug hin und her, und die anderen Fahrgäste müssen ganz verwundert sein, was da bei den Mädchen so vorgeht.

Ja wirklich, diese Art Kleidung ist so offen, viel mehr als Jungens-Sachen. Außer dem Rock oder Kleid und den Strümpfen soll ja alles "Unterwäsche" sein und darf eigentlich von anderen nicht gesehen werden. Ich bekomme da reichlich Scheu. Und dann noch einfach ein Kleid, das unten offen ist, und das der Wind so leicht hochblasen kann. Oft sehe ich ja Mädchen, die ihren Rock festhalten, damit das nicht passiert. Soll ich das auch?

Zuerst gehen wir in ein Geschäft, wo es Kleider, Röcke und Blusen für Kinder bis 18 gibt und kaufen noch ein paar Stücke ein. Uns Jungen — ich sollte eigentlich schon Mädchen schreiben, ja? — ist es eigentlich egal, was wir bekommen, doch Fräulein Groth ist sehr sorgfältig mit der Auswahl, und es dauert sehr lange. Und alles ist mindestens knielang, “ihr seid nun keine kleinen Mädchen sondern schon etwas Frauen, da dürfen die Röcke nicht mehr so kurz sein.”

Dann müssen wir noch weitere Strümpfe kaufen: lange Perlons und bunt geringelte Söckchen, die wir manchmal noch darüber ziehen können. Die Perlons mögen wir nicht, sie sind uns zu kurz, doch Fräulein Groth besteht darauf, daß sie nicht den ganzen Oberschenkel bedecken sollen. Nur um Erfahrung zu sammeln, bekommt jeder ein ganz langes Paar dazu (der Fußteil ist dann etwas zu lang). Und damit die Strümpfe straff auf dem Bein bleiben und wir gepflegt aussehen, bekommt jeder zwei rosa (!) Strumpfhaltergürtel mit weißen Spitzen daran und mit elastischen Haltern, die am Ende diese silbern glänzenden Drahtklemmen haben. Und die Ersatzteile dazu, das sind besonders die Knöpfe, die oben ein Stück Strumpf einklemmen, indem sie in die Drahtschlaufe gedrückt werden und die sich so leicht verlieren, ich habe später gesehen, daß sie in Hochfels überall rumliegen — verloren —, und überhaupt Nähzeug.

Wir sollen uns umziehen: die Perlons und die neuen Strumpfhalter, denn Knöpfe sind natürlich nicht an den Perlons. Wir knöpfen die Halter an die Strumpfhaltergürtel und stellen sie an die Länge der Strümpfe ein. Wie ich das mache und sorgfältig die Strümpfe anziehe, beginne ich wieder erregt zu zittern und mein Penis wird ganz steif, ich weiß auch nicht warum und weiß mir kaum zu helfen. Aus der Umziehkabine mag ich erst nicht nach draußen gehen, denn mein Kleid beult sich vorne und jeder könnte sehen, was mit mir los ist, bin sehr verlegen.

Während meines Gangs zu den Mädchen lerne ich deren Techniken kennen: 
Zu Beginn: der echte Strumpfhaltergürtel und die Strümpfe, 
rechts: so klemmen wir die Strümpfe an den Strumpfhalter.



Peter, der dritte ist nicht zufrieden: “Hinten ist der Strumpf aber sehr weit nach unten gerutscht, fast am Knie. Können wir nicht noch einen dritten Strumpfhalter haben?” Also werden für jeden noch zwei Paar dazu gekauft, doch da keine weiteren Knöpfe an den Gürteln sind, können wir sie erst zuhause anbringen.

Fräulein Groth kauft für jeden etwa zehn Paar Strümpfe und sagt, “ihr müsst immer ein oder zwei Paar in Reserve dabei haben, denn sie gehen so leicht kaput, und eine Laufmasche im Strumpf sieht sehr ungepflegt aus.”

“Es gibt aber nicht immer Umziehkabinen, wo sollen wir uns dann die heilen Strümpfe anziehen?” “Oft geht das auf dem Klo, oder im Zimmer eines Mädchens, das ihr bittet. Frauen und Mädchen haben viel Einfühlungsvermögen und Aufmerksamkeit für einander, wenn es mal eine Panne gibt,” sagt Fräulein Groth. “Und wenn mal meine kleine Laufmasche läuft und ihr euch nicht umziehen könnt: ein Tropfen Nagellack hilft. Der gehört immer ins Handtäschchen. ”

Und dann gibt es noch Baumwollstrümpfe, die angenehmer zu tragen sind, in hellbraun, ein Paar in weiß. Ein Handtäschchen für jede, Mädchen-Taschentücher und noch manches andere wie Lippenstift, ein seidenes Halstuch, Nagellack und Nagellackentferner ... Irgendwie kommt mir manches davon affig vor, aber Fräulein Groth sagt, “das gehört einfach zur Grundausrüstung von Mädchen in Hochfels, es sind doch alles Leute aus feineren Häusern. Ihr werdet es jetzt nicht brauchen, aber dort werdet ihr froh sein, ausgerüstet zu sein und nicht wie Anfängerinnen für jede Kleinigkeit in die Stadt eilen zu müssen.”

Nachher kaufen wir uns ein Eis und bringen Fräulein Groth auch eines mit und setzen uns auf eine Parkbank gegenüber der großen Kirche. Sie erzählt uns noch etwas über das Tragen von Röcken: “wenn ihr euch hinsetzt, müsst ihr erst mit beiden Händen den Rock hinten glatt streifen und runterziehen, damit er nicht faltig wird. Und im Sitzen sollte er die Knie bedecken oder wenigstens die Schenkel bis an die Knie ran. Und elegante Mädchen schlagen die Beine nicht übereinander sondern stellen sie dicht nebeneinander.” Das ist alles sehr viel, und ich hoffe, daß ich nicht die Lust und Geduld verliere. “Du machst es einfach so wie die anderen Mädchen auch.”

Am Ende der Bank sitze ich und nach einiger Zeit wird mein Bein oben kalt. Wie ich mit der Hand hinfühle merke ich, daß das Kleid da hoch gerutscht ist. Ich lasse das so, weil es Spaß macht, beobachte dann aber, wie einige Jungen und Mädchen herüber gucken und lachen. Nun erst merke ich, daß der Strumpfhalter und ein Stück Strumpf nicht vom Kleid bedeckt und offen sichtbar sind — ich weiß, daß es mir auch Spaß macht, so etwas bei anderen zu sehen. Aber nun werde ich verlegen und rot und versuche das Kleid zurechtzuziehen. Ich muß aufstehen und das ganze Hinsetzen noch einmal üben.

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Bevor wir nach Hochfels abreisen, treffen wir drei uns noch mit Herrn Kunze. Er sagt noch dies und das, aber besonders, “laßt alles los, was bisher für euch galt und fangt neu an. Seht wie die Mädchen mit ihrem Leben umgehen und was sie denken und fühlen, und fragt sie. Geht mit eurer Erfahrung so tief hinein wie es euch möglich ist — und noch etwas tiefer. Denkt nicht, ich kann nicht mehr, das ist alles zu viel. Also: rennt nicht fort oder flieht in die Hosen — sondern bleibt das halbe Jahr in Hochfels und macht voll mit. Wenn ihr mal verreist, bleibt weiterhin Mädchen, auch in der Kleidung. Wenn es euch mal zu viel wird, zieht einen Mantel oder Anorak an, zieht die Kapuze über den Kopf und lauft in den Wald oder an den See. Doch zieht nie Hosen an — außer wenn es alle tun, zum Reiten zum Beispiel oder bei Wanderfahrten. Ich gebe hier jeder von euch ein dickes Tagebuch mit, schreibt so viel rein wie ihr wollt, niemand soll das Buch zu lesen bekommen, auch später nicht. Schreibt besonders von euren Gefühlen hinein.” Aus diesem Tagebuch habe ich diese Geschichte zusammengestellt — also, nach so vielen Jahren dürft ihr sie nun doch lesen.

“In Hochfels sollt ihr Waldfelser nicht miteinander hocken, ihr drei werdet nicht in derselben Klasse oder im selben Stamm sein. Ihr sollt euch nicht mehr unterstützen als es alle mal tun, also nicht weil ihr euch kennt oder die einzigen Jungen dort seid. Und ihr sollt nicht zusammen hinreisen sondern jede einzeln. Dort werdet ihr am Bahnhof von ein paar Schülerinnen abgeholt.”

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Am nächsten Tag steige ich mit meinem Koffer in den kleinen Triebwagen zur Stadt. Fräulein Groth begleitet mich noch bis an den Zug nach Hochfels, in den ich im Stadtbahnhof umsteige. Oh nein, ist das eigenartig, nun bin ich ganz allein als Mädchen unterwegs und den Gefährdungen des Lebens fast wehrlos ausgesetzt. Ich merke es sofort, wie ich in den Zug nach Hochfels einsteigen will: es weht viel Wind auf dem offenen und kahlen Bahnsteig (die Dächer und Gebäude waren im Krieg durch Bomben zerstört und noch nicht wieder erneuert) und ich weiß nicht wie ich den hohen Perron in den Waggon hinaufsteigen kann ohne daß der Rock mir um die Ohren fliegt. Es sind noch viele Leute da, die einsteigen wollen. Ich warte um zu sehen, wie andere Mädchen das tun, aber irgendwie kann es jede: schmeißt das Gepäck vorweg und hält den Rock mit einer Hand und das Geländer mit der anderen fest. Da ich besonders aufmerksam hinsehe, bemerke ich auch, wie bei anderen das eine oder andere Mal ein Stück Unterwäsche zu sehen ist, doch es scheint die Mädchen nicht zu kümmern — also sollte es mich auch nicht kümmern.


Beim Einstieg in die Bahn über den Perron,
der Wind weht uns oft den den Rock hoch

Ich sitze im Zug, eine halbe Stunde Fahrt noch bis Hochfels, bin voller Spannung, Erregung, auch etwas Angst. Sitze am Fenster und gegenüber sitzt eine Frau, die liest. Beim Aus-dem-Fenster-Sehen geschieht es, daß ich nicht mehr wachsam bin und meine Beine übereinanderschlage. Die Frau sieht auf und lächelt. Sie sagt, “ich mag es, wenn Mädchen so frei sind und sich nicht immer an ihren Rock festklammern. Doch wenn ein Junge gegenüber sitzt, solltest du das nicht tun, er könnte zu gierig werden.” “Wieso gierig?” frage ich verlegen. “Ja weißt du, ich als Frau werde ja nicht gierig, freue mich nur, wie da unter deinem grauen Reise-Rock ein strahlender weißer Unterrock mit Spitzen hervor sieht, und was für ein hübsches rosa Höschen mit eleganten Rüschen du anhast — und es ist einfach süß, wenn ein hübsches Mädchen so was trägt, so lange Strümpfe und Strumpfhalter trägt — alles so gepflegt. — Doch Jungen wollen immer mehr, sie ziehen dich im Geiste aus und wollen dich nackt sehen und denken, du lädst sie mit deiner Aufmachung ein, und daß du dich mit Absicht  so hinsetzt, damit sie deine Unterwäsche sehen können. Das lockt sie ganz stark, erregt ihre Gefühle. Zum mindesten macht es ihnen Spaß, frech zu sein und eine Schwäche bei dir auszunutzen.”

“Wieso Schwäche?” frage ich. “Das weißt du doch, du fühlst dich doch verletzbar.”

Ihr könnt euch vorstellen, daß mir das zu denken gibt. Bin froh, daß unter dem rosa Höschen noch ein fester Slip ist, damit die Leute nicht erkennen, daß ich ein Junge bin. — Es ist auch beruhigend, daß sie nichts merkt.

Ich finde es aber schon eigenartig, daß Mädchen sich so anziehen, daß so leicht das Höschen zu sehen ist, was eigentlich unsichtbar sein soll, und um das sie sich schämen sollen. Es muß ja nicht sein, aber sie tun´s alle.

·


Ankunft in Hochfels
Ich komme an der Bahn-Haltestelle von Hochfels an, und zwei Schülerinnen warten auf mich um mich abzuholen. “Komm, wir setzen uns erstmal auf die Bank da, um uns kennen zu lernen,” und mit fröhlich wippenden Röcken gehen sie voraus. Sehe ich auch so aus? frage ich mich, kann ich auch so mit dem Rock wippen? Ihre eleganten Strümpfe sind ganz gerade mit der Naht, das sehe ich und gucke nach hinten wie es mit meinen ist nach der Reiserei. Ich frage, “sind meine Strümpfe in Ordnung?” “Nein, wir wollen sie mal zurecht ziehen, komm wir gehen mal in dem Obstgarten da in eine Ecke.” Zwischen Obstbüschen mache ich die Strümpfe los und hinter mir hockend ziehen die beiden sie zurecht bis die Naht wieder ganz gerade ist, dann knöpfe ich sie wieder fest. “So, nun ist die volle Eleganz wieder hergestellt. Wie heißt du eigentlich?” Ich sage “Rollia”, so wie wir in Waldfels meinen zweiten Spitznamen Rolli in eine weiblich klingende Form umgewandelt haben. Den Namen hatte noch keine gehört, und ich sage, “ich auch nicht, er ist neu, von uns neu erfunden.” “Ja, dein Name ist schön, fast süß.”

Mein Koffer wird von Katrin und Martina auf einen Karren geladen und wir ziehen ihn in den Wald und den Berg hoch. Bei einer Pause fragen die beiden, “wie bist du denn sonst so angezogen, ist alles in Ordnung? So das erste Mal? Hast du einen richtigen Damen-Strumpfhaltergürtel an? Ist er elegant und nicht so grau jungenhaft? Und weißt du, hier in Hochfels muß jede einen Büstenhalter oder wenn sie klein sind wenigstens ein Miederchen tragen, hast du so was?” Und solche Fragen ... Die eine zieht etwas an meinem Kleiderrock und möchte mal drunter sehen. Verlegen lasse ich sie, dabei werde ich etwas steif, mein Penis auch schon wieder. “Das ist aber süß,” “Nein, DER ist aber süß” sagen sie schnatternd. “Ich möchte ihn mal ganz sehen, darf ich mal dein Höschen runterziehen?” Ich weiß nicht, was ich sagen soll und streife einfach meinen Rock wieder runter, und wir gehen weiter. “Wir haben uns schnell gemeldet um dich abzuholen. Gleich werden wir einen geheimen Seitenweg gehen und an eine Lichtung im Wald kommen. Da warten noch ein paar andere Mädchen auf dich, und wir wollen einen kleinen Empfang feiern. Du wirst schon sehen, es sind interessante Mädchen. Wir gehören alle zum selben Stamm.”

Ich weiß nicht, was Mädchen so alles zu sagen haben, den ganzen Weg schnattern sie. Ob ich auch mal so werde?

Die Waldlichtung, ein Feuerchen brennt da, und wohl zehn Mädchen sitzen drum herum, die nun aufstehen. Sie begrüßen mich erstmal und wir setzen uns um´s Feuer. Wir sind verlegen und schweigsam und warten. Es ist alles so neu. Die größte kommt zu mir — “ich heiße Marianne” — und sagt, ich solle mich bei ihnen wohl fühlen, und bei jeder Neuen würden sie so eine Feier feiern, um sie einzuführen. Und “es wird etwas anders sein als sonst, denn du sollst keine Scheu vor uns haben, und wir nicht vor dir.” Wieder Schweigen, ein paar summen und andere fallen ein. Das Summen wird lauter, eine bringt am Feuer einen Tannenzweig zum Glimmen und geht rum, um jede daran riechen zu lassen. Dann streuen sie ein paar getrocknete Blätter auf die Glut des Zweiges, sie sind in einer Papiertüte mitgebracht, und lassen wieder alle daran riechen. Rauch steigt von dem glimmenden Zweig auf, und die Waldlichtung füllt sich mit diesem Duft. Er ist sehr stark und sehr angenehm. Gespannt sehen alle umher und warten, wie es weiter gehen wird.

Da haben sie einen Kreis mit Kiefernzapfen und anderen Waldsachen gelegt, in den soll ich mich nun stellen. Ich sehe, daß einige Zelte unter den Bäumen stehen. Die Mädchen stellen sich im Kreis um mich auf. Sie sind sehr ernst und immer noch verlegen.

Es sind kleinere und größere Mädchen da. Marianne beginnt und sagt, “wir feiern jetzt deine Ankunft und führen dich gleich in unser Mädchen-Leben ein. Wir bitten dich, mach mit und öffne dich ganz für uns. Vielleicht ist das hier auf der Lichtung sehr eigenartig und fremd für dich, aber laß dich bitte darauf ein. Für uns alle ist das auch neu, so in dieser Art. Wir denken, dieses ist die beste und reinste Art, dich in unsere Runde aufzunehmen ohne daß du Angst vor uns bekommst. Es sollen nur wenige Geheimnisse zwischen dir und uns bleiben, ein paar wird es immer geben. Es soll die beste Art sein, wie du zum Mädchen wirst.”

Die Mädchen singen ein kurzes Lied, ich kenne es nicht und höre zu, wie ihre Stimmen anders sind als Jungenstimmen, sind sie zarter? In dem Lied kommt etwas wie “wir laden alle ein, die gerne zu uns kommen” und “sei eine von uns, es wird dir wohl ergeh´n”. Eine kommt und streicht mir seitlich über den Leib und küsst mich schließlich. Ach sind das Sitten, ein wenig unheimlich ist das ja wirklich.

Und nun singen sie ein Lied mit Stimmen, die kratzig und herbe klingen sollen, was nicht alle können. Es ist ein Lied von Edith Piaf, die meine Mutter so gerne hört. Es erinnert mich an schöne Abende zuhause, wenn die Piaf von den Schallplatten sang, und ich werde ein wenig wehmütig und empfindsam.

Wie alles so weit ist und wir noch im Kreis stehen, beginnen sie langsam ihre Röcke hoch zu ziehen, und ich bekomme ihre Schlüpfer und die Strümpfe und Halter zusehen. Mir wird kalt und heiß und ich werde wohl schon wieder ganz rot. Sie sagen, ich soll mich umdrehen und alle ansehen, “denn nun mußt du dich daran gewöhnen, Mädchen unter Mädchen zu sein. Das darf nun nichts Fremdes mehr für dich sein. So muß das auch bei dir sein.” Sie sind ganz verschieden gekleidet, die zwei größeren haben wadenlange Röcke und tatsächlich die kürzeren Strümpfe und die längeren Halter an, die sich über den halben Oberschenkel spannen. Ihre Strümpfe gehen kaum höher als zwei Hand breit über das Knie. Die Halter sind dann an einen breiten weißen Hüftgürtel befestigt, der noch ein Stück des Oberschenkels bedeckt, jedenfalls rechts und links. Ich bin ganz aufmerksam und sehe so viel auf einmal. Ich denke, das muß ich doch — obwohl es mir recht peinlich ist.

Eine sagt, “Nun mußt du dich aber auch zeigen.” Ich weiß nicht, ob das recht ist, aber so sind diese Mädchen wohl, denke ich. Ich ziehe auch meinen Rock hoch, und mein Penis ist schon wieder ganz steif und beult alle Unterwäsche nach vorne. Wie sie das sehen, rufen einige “das muß nun anders werden, nun sollst du doch Mädchen sein.”

 “Halte deinen Rock schön hoch und sieh dich um, sieh uns alle an und, welche magst du am liebsten? Bei welcher von uns möchtest du diese Nacht im Zelt liegen?”

Es geht alles so schnell. So hatte ich es nicht erwartet, nicht mal in meinen Träumen — na ja, eigentlich habe ich noch nie von Mädchen geträumt. Mutig sehe ich sie alle an, ihre Gesichter, ihre Kleidung und wie sie sich geben. Ein kleines, vielleicht zehn Jahre altes Mädchen suche ich mir aus und traue mich, es ihr zu sagen. Ihre Strümpfe reichen hoch bis an den Leib und lassen nur wenig Schenkel sehen. Sie zögert, doch dann läßt sie den Rock fallen, kommt strahlend auf mich zu, nimmt mich an die Hand und leitet mich zu einem kleinen Zelt — “das ist ganz allein mein Zelt.”

Die anderen kümmern sich um das Feuer und holen schnell einen Topf und Geschirr herbei, eine Suppe haben sie vorbereitet, die sie nun warm machen. Die kleine Helga geht mit mir wieder raus ans Feuer und wir setzen uns zu den anderen. Sie sagt, “sieh mal, alle sitzen so, daß wir unter ihre Kleider sehen können, tu das auch. Es gehört sich so bei einem solchen Einweihungsfest für Neue. Alle sind gleich, du auch.”

Helga sagt, “nun will ich dich mal allein für mich haben. Immerhin hast du mich ausgesucht, oder?” Sie sieht so süß aus, besonders im Gesicht. Ihre erd-braunen Strümpfe sind tatsächlich noch länger als die Beine und sind oben zusammengeschoben, Helga hat sie umgekrempelt und noch Knöpfe weiter unten angenäht, ihre Schenkel sind nur hinten sichtbar, wenn sie aufsteht. Wir beide bekommen zusammen eine Schale mit der Obstsuppe und einen Löffel. Die Suppe schmeckt fruchtig und süß. Helga nimmt etwas an ihre Finger und streicht mir das an meine Lippen zum Ablecken. Ich möchte mich hinlegen und etwas schlafen. Helga geht mit mir zu ihrem Zelt, und wir legen uns auf eine rot-gelbe Decke. Sie legt sich ganz dicht an mich und macht ganz hohe Töne, weil es so schön ist. Ich habe lange nicht mehr mit einem Menschen so dicht zusammen gelegen, und voller Seligkeit schlafe ich ein, während Helga meinen Schlaf bewacht, wie sie hinterher sagt. Das hat sie in einem Buch gelesen.

Später wache ich auf, es ist noch hell. Ich sehe Helga lange ins Gesicht und frage sie, wo sie das her hat, daß sie sich einfach so mit einem größeren Jungen ins Zelt legt. “Ja, ich habe einen Zwillingsbruder — er ist auch in eurer Schule —, und wir haben so oft zusammen im Bett gelegen, auch geschmust, meistens, von Geburt an sozusagen.

“Wenn Ferien sind, machen wir das zuhause immer noch. Und zu unserer Mutter sind wir auch immer ins Bett gekrochen. Als du mich ausgewählt hast, zögerte ich zuerst, doch als ich sah, daß du noch ein Kind bist, dachte ich an meinen Bruder, und da ... Ich bin bald 13 Jahre und noch sehr klein und jung. Das magst du doch, oder?” “Ja, ich habe etwas Angst vor den größeren Mädchen. Und da bist du mir lieber. Ich sehe dich an und mag dich sehr.” Was sie so erzählt, will ich noch besser verstehen und frage,

“was meinst du mit ‘wir haben geschmust´?” “Ach, nicht nur geküßt, sondern wir haben einander den ganzen Körper gestreichelt und erlebt, wie schön der ist, und wie schön sich das anfühlt. Mein Bruder ist schon recht groß, und ich liebe ihn und mag alles an ihm, wie er ist. Genauso wie du zieht er auch gerne Mädchensachen an, und einmal, als er das lange nicht mehr getan hatte und Neues von unserer Mutti bekam, hat er es angezogen und vor Freude und Rührung geweint, so hat er sich gefreut. Er hatte ein weites buntes Kleid an und weiße Strümpfe mit einem weißen Strumpfhaltergürtel um den Leib geknöpft — mit kleinen Spitzen dran. Er sah wunderbar darin aus, vor ein paar Wochen, in den letzten Ferien.”

“Ja” sage ich, “als ich neulich das erste Mal bei unserer Schneiderin Mädchensachen angezogen habe, habe ich auch geweint vor Glück, verstehst du das?”

“Nicht so richtig, denn solche Sachen sind doch was ganz normales. — Also eigentlich sind sie in dieser Zeit doch nicht so normal. Nur in dieser Zeit mit dem vielen Nachkriegselend, da sehnen sich Leute nach so was, ich muß mal überlegen woher das kommt. Wenn ich daran denke, wie die Flüchtlinge aus dem Osten ankamen, häßlich, verschmutzt, zerrissene Kleider, viele Mädchen und Frauen trugen häßliche ausgebeulte Hosen ... da haben wir hier schon was ganz Besonderes. Unsere hellen, fröhlichen und zarten Mädchensachen. Das ist schöner als eure Jungensachen, die meistens so düster aussehen. Und du kannst mit Röcken und Kleidern rumwedeln, beim Tanzen fliegen sie umher wie Blütenblätter, ja das macht mir Spaß. Die bunten Farben und das Wedeln. Du wirst es schon noch erleben.”

“Und dein Vater, wie findet er das? Hat er auch Freude an diesen Kleidern?” “Der lebt schon lange nicht mehr, ist als Soldat im Krieg gestorben, gefallen sagt man ja.” “Vielleicht hätte er das auch gemocht?” Helga weint ein bißchen und seufzt, “sein Bruder ist oft bei uns, ich glaube Mutti und er mögen sich, oder lieben sich, ich weiß nicht. Doch sie wollen nicht heiraten, denn wir Kinder sollen immer die Verbindung zu unserem Vater behalten, und wenn ein anderer Mann da ist, sagt sie, dann geht das vielleicht nicht mehr.” “Und wie findet der das?”

“Dieser Onkel Oskar, weißt du, er ist schon eigenartig, würden die meisten Leute heute denken. Wenn es geht, auch wenn er bei uns ist, dann zieht auch er oft Röcke an, so lange weiße oder helle karierte Wickelröcke, hatte er mal im Orient gelernt, wo er früher viel war. Doch für draußen zieht er ganz ordentlich Hosen an und weiße gestärkte und gebügelte Hemden und Schlips und all das. Also, eigenartig ist er schon, er liebt es, solche Röcke zu tragen, und Mutti mag das an ihm auch.”

Nun will ich von mir erzählen: “Mein Vater hat den ganzen Krieg als Soldat überlebt, und er hat auch keine Verwundung am Körper. Er ist auch bald zurückgekommen, war nur kurz in Gefangenschaft. Aber seelisch ist er ganz schön abgewirtschaftet. Er sagt, er habe fast jede Nacht Alpträume und wacht schreiend auf und muß erstmal eine Zigarette rauchen, bis er sich wieder ins Bett legt, aber schlafen kann er dann meist nicht mehr. Meine Mutter und er haben deswegen eigene Zimmer. Tagsüber arbeitet er im Büro einer Fabrik und verdient viel Geld. Ich glaube nicht, daß er etwas mit Röcken für Männer im Sinn hat, aber was ich hier mache, findet er als Experiment gut, hat er mir geschrieben und viel Erfolg gewünscht — wie diese Leute so sind: Erfolg, aber von Freude ist keine Rede.”

Eine Zeit lang liegen wir nur so im Zelt und hören wie die Brummer an die Außenwand fliegen und kleine Zweige von den Bäumen fallen. Ich sage weiter: “Doch meine Mutti und die Schwestern finden das gut, sie schreiben, du hast viel Mut, dich an Erfahrungen ranzumachen, wovor eigentlich alle Angst haben. Ich glaube, diesen Männern, die so Schreckliches im Krieg erlebt und getan haben, denen täte es sehr gut, wenn sie mal so leben würden wie wir jetzt gerade, so leicht und weiblich.” Helga ist nachdenklich, sie wedelt mit einer Hand rum und sagt schließlich, “du, sie wissen das, sonst würden sie sich nicht so anstrengen, daß wir diese Schule besuchen können, doch für sich selbst, glauben sie, ist es zu spät.”

Zum Schluß finde ich, “hier habe ich ein sehr warmes Gefühl mit dir, es ist so schön, mit dir zusammen zu sein. Wir können doch Freunde bleiben, auch wenn die Schule für mich anfängt und wir uns nicht so oft sehen?”

“Wir beide sind im selben Stamm und in derselben Klasse,” sagt sie. Das bedeutet, daß wir uns bei jedem Essen sehen und vielleicht zusammen sitzen können. “Unsere Stammes-Mutter ist eine ganz klasse Frau, noch nicht so alt, vielleicht 25. Sie hat auch viel Spaß daran, Frau zu sein. Sie spielt auch mit ihren Röcken und Kleidern und bunten Tüchern wie wir alle. Fräulein Mansfeld heißt die. Sie hat sogar ein paar Seidentücher mit bunten Vögeln drauf, und Blumen und Blättern. Diese Tücher seien aus Indonesien sagt sie, eine alte Frau hat ihr die mal geschenkt, weil sie nicht mehr sowas buntes tragen wollte — ist doch auch schade, was?”


das Schloß Hochfels

Am nächsten Morgen lerne ich Fräulein Mansfeld kennen, doch zuerst diese Burg, jedenfalls von außen. Nachdem wir ganz früh auf der Lichtung alles zusammengeräumt haben, gehen wir zur Schule, zum Internat — mein Koffer liegt noch immer auf dem kleinen Wägelchen. Die Burg Hochfels, in der das Internat ist, hat Zinnen und einen eleganten Turm und ein paar Wasserspeier, die fast wie die Drachen an anderen Burgen aussehen. Das Dach ist grün, die Wände grau und die Fenster weiß, ganz normal, denke ich. Wir gehen über eine Brücke — früher war hier vielleicht mal eine Zugbrücke, ach ja, da sind noch Reste der Zugkette an der Wand, die Löcher meine ich.

Hier haben sie auch so etwas wie unseren Rittersaal, wo alle essen, das Frühstück besteht aus einem Porridge, das ist ein englischer Haferbrei, und warmer Milch, Honig steht auf dem Tisch. “Du bist also die Neue. Unsere Heimleiterin, Frau Grabow, hat mir schon Bescheid gesagt, daß du in unseren Stamm kommst. Wie heißt du?” “Rollia” sage ich, “ein neu erfundener Name.” “Willkommen bei uns, Rollia! Die Mädchen aus unserem Stamm haben dich gestern abgeholt und ein Willkomm-Fest gefeiert, haben sie mir erzählt. Da habe ich mich sehr gefreut. Sie haben es gerne getan, eigentlich war es ihre Erfindung, das so zu machen, sie haben mich vorher gefragt, und ich habe ihnen noch mit der Besorgung der Suppe und so geholfen. Ich heiße Fräulein Mansfeld, und wir Lehrerinnen lassen uns immer mit Frau oder Fräulein und Name anreden. Das wirst du noch alles lernen, doch in Waldfels wird es nicht anders sein.

“Und hier bei uns bist du ganz Mädchen, wie wir alle. Das ist dein ganz besonderer Entschluß, und für uns alle ist es was Besonderes, daß du mit dieser Idee zu uns gekommen bist. Wir wollen dir alle helfen, für diese Zeit deine Jungen-Vergangenheit etwas zurück zu lassen und an unserem Leben teilzunehmen. Ich werde dir nachher dein Zimmerchen zeigen, und deine Dusche. Aber du bist frei, selbst zu sehen und zu entscheiden, was du willst — außer daß du mit uns als Mädchen ein halbes Jahr leben willst. Das hast du ja schon entschieden. Wenn du Schwierigkeiten hast, frage ein anderes Mädchen deines Vertrauens oder mich oder Frau Grabow.”

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Der erste Schultag hier. Die Klassenräume sind wie in Waldfels, Zweierbänke mit Zweiertisch. Wußte morgens nicht, was ich anziehen könnte. Regel ist ja Perlons und Rock oder Kleid. Auch ziehen wir ab der vierten oder fünften Klasse (also etwa ab 12) Damenschuhe an, schmal und mit etwas erhöhtem Absatz. Das ist schon etwas schwierig für mich in solchen Schuhen, wahrscheinlich für alle jüngeren Mädchen hier. Es ist eben eine recht vornehme Schule mit dem Ziel, die Schülerinnen zum eleganten Benehmen in der oberen Gesellschaft heranzuziehen. Doch außerhalb des Unterrichts kann ich meine normalen flachen Schuhe anziehen, die sind auch nicht so empfindlich, wenn man raus geht. Und natürlich ziehe ich die Perlons schnell aus — wie die meisten Mädchen — und trage dann Baumwollstrümpfe. Am liebsten würde ich mit nackten Beinen gehen, doch das sollen wir nicht.

Ich habe also einen leichten mittelgrünen Rock gewählt und eine dunkelgrüne Bluse mit einem weißen gerüschten Kragen und halblangen Ärmeln, die auch weiße Rüschen haben. Das passt etwa zu dem, was die anderen tragen. Auf der Bank sitze ich nun und neben mir ein Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen und roten Schleifen in den Zöpfen. Sie heißt Lisa. “Rollia,” sagt Lisa, “ich finde es toll, daß du zu uns gekommen bist. Wenn du Fragen hast, kannst du zu mir kommen. Hast du kein Halskettchen, das würde noch zu deiner Bluse stehen.”

Ich frage Lisa gleich, “können andere Menschen wirklich nicht sehen, daß ich ein Junge bin?” Es macht mir Sorgen, wenn ich von Fremden verspottet würde: ein Junge in Mädchenkleidern. “Ich glaube nicht. Auch ist dein Gesicht nicht gerade männlich, braucht es doch auch nicht, so jung wie du bist.” Ich frage sie, “warum habe ich diese Angst? Hättest Du andersherum auch solche Angst?” “Nein, denn es wäre nichts besonderes, Jungensachen anzuziehen.” “Ich verstehe dieses Gefühl bei mir nicht. Sind wir so erzogen worden? Hat es etwas damit zu tun, daß Mädchen und Frauen als minderwertig angesehen werden? — und Männer sich darüber erheben müssen?”

“Was ist das denn, minderwertig?” fragt Helga entrüstet, “manchmal sagen die Leute ihren Söhnen, sei vorsichtig mit den Frauen, die wollen immer alles. Vielleicht ist es die Angst, daß Frauen alles tun, damit ihnen die Männer gehorchen, damit sie ihnen verfallen, auch mit ihrer Kleidung versuchen sie es — so denken die Leute. Bestimmt gibt es auch solche Frauen, aber solche Männer auch.”

So ist die Lisa, kann immer alles erklären. Sie zieht ihr Kleid etwas hoch, so daß ich ihre Strumpfhalter sehen kann und fragt, “erregt dich das?” “Nein” sage ich, “es ist wohl schön anzusehen, aber ich trage das doch auch, brauche nur meinen Rock hoch zu ziehen und meine eigenen Beine ansehen. Trug das schon immer unter den kurzen Hosen.” Dann sieht sie mir lange gerade und still in die Augen und fragt wieder, “erregt dich das?” “Ja”, sage ich, “das ist ganz stark, und ich möchte dich berühren.” “Siehst du, so ist das. DAS sind die Waffen der Frau, wie die Leute so sagen.”

“Es sind schöne Waffen,” sage ich.

Wie wir abends mit unserem Stamm zusammensitzen — Lisa ist in einem anderen Stamm und nicht dabei —, erzähle ich von diesem Gespräch und frage Fräulein Mansfeld, was denn die Waffen der Frau seien. “Waffen möchte ich nicht sagen, denn das klingt mir zu sehr nach Kampf und Krieg. Davon haben wir jetzt mehr als genug gehabt. Doch wie du in Lisa´s Augen gesehen hast, haben wir Frauen etwas, was die Männer wach macht und anzieht, das geht dir auch schon so. Das sind noch viel mehr Dinge als nur die Augen. Die Natur hat uns Frauen so gemacht, daß wir den Männern etwas Besonderes zu zeigen und zu geben haben — na ja umgekehrt natürlich auch. Da ist immer der Unterschied zwischen beiden. Ohne solche Unterschiede wäre das Leben doch sehr langweilig. Wir sollten es richtig finden, daß ich die anderen nie ganz verstehen kann, daß sie nie ganz so sind wie ich es mir wünsche.”

“Warum sollen sich Menschen nie ganz verstehen?”

“Ich meine, wir sollten es richtig finden, weil es einfach so ist und nicht geändert werden kann. Sonst wird das Leben zu schwierig.”

“Das mit Lisa´s Strumpfhaltern verstehe ich nicht,” sagt ein Mädchen, “wieso fragt sie Rollia so was? Was ist da besonders dran?”

Fräulein Mansfeld geht darauf ein: “Wir haben gelernt — oder ihr seid noch dabei, das zu lernen —, daß manche Sachen nur von Frauen und Mädchen getragen werden, und da denkt ein Junge, oh ist das weiblich. Er denkt, ich darf so was nie tragen und will das auch nie. Sonst denken die Leute, ich bin ein Mädchen, und das wäre nicht recht. Sogar denkt er: da muß ich mich schämen. Dazu gehören Röcke und auch die Strumpfhalter. Damit zeigen die Frauen den Männern: hier ist eine Frau, hier ist ein besonderer Mensch, der dich treffen will. Und du bist NICHT eine Frau — du bist ein Mann.

“Doch in anderen Ländern ist das etwas anders, da haben die Frauen andere Zeichen. Wie Menschen sich kleiden, ist nicht natürlich, das hat sich eine Kultur selbst ausgedacht: Frauen müssen das eine tragen, Männer das andere. Und das wechselt ja ständig. Sieh mal in Geschichtsbücher, wie unterschiedlich Frauen und Männer in all den Jahrhunderten gekleidet waren, oder in verschiedenen Ländern. Es ist ein Spiel, ein schönes Spiel. Leider wird es oft so schrecklich ernst genommen. Nur eines zieht sich durch wie ein roter Faden: Frauen tragen fast immer und überall  Röcke oder Kleider — doch auch das nicht in allen Zeiten oder Kulturen. Und Männer? Mal tragen sie Hosen, mal Röcke. Noch heute tragen Pastoren lange Kleider, wenn sie dem Gottesdienst vorstehen. Auch der Papst übrigens. — Huch, war das eine lange Rede.”

Ist das alles schwierig, hätte ich nicht gedacht, ich sage, “dann bin ich also so erzogen, daß diese Kleidung hier nur für Frauen sein soll, und ich als ein Junge das nie, nie, nie tragen darf, ist das so? Ich kann mich nicht  erinnern, daß die zuhause mir das gesagt haben. Und daß ich als Junge nie mädchenhaft sein darf.”

“Das geht schon sehr früh los im Leben, und gesagt wird das nicht, wir sehen es einfach und nehmen das sehr ernst — unbewußt!”

Ich sage noch, “wie die meisten Jungen habe ich aber auch lange Strümpfe und all das getragen, eigentlich alle Jungen bei uns, alle sagten aber auch, das ist Mädchenzeug, und dennoch. Immer schon hatte ich das Gefühl, wie ein Mädchen angezogen zu sein, doch ICH mochte das. Das ist alles etwas durcheinander für mich. Denn ich bin ja doch ein Junge, das geht doch nicht anders.”

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Die kleine Helga hat mich die ganze Zeit angesehen und findet, daß Mädchen sich gerne schmücken und Schönes anziehen. “Ich sagte doch: wie die Kriegs-Flüchtlinge aus dem Osten ankamen, waren sie so traurig und hatten häßliche Kleidung, verschmutzt, zerrissen.”

Marianne fährt fort: “Aber nachdem sie sich hier erst mal so eingerichtet hatten, war das erste, was die Frauen taten: sie besorgten sich bunte Kleider und Schmuck und alles, was schön ist. Haben Blumen auf die Tische gestellt. Und die Frauen hier haben ihnen dabei geholfen und ihnen von ihren schönen Dingen abgegeben, auch haben sie begonnen, Parfüms selbst zu machen. Frauen stehen einander in solchen Dingen immer bei.”

Im Tagesprogramm in Hochfels ist mehr Zeit für die Mädchen gelassen, um sich zu pflegen, als für uns Jungen in Waldfels. Das sage ich und finde Lachen und ein paar witzige Bemerkungen. “Ja, so muß das sein,” sagt Fräulein Mansfeld und lacht mit den anderen. “Wir haben das so gemacht, weil Mädchen wirklich viel mehr Zeit brauchen. Wir werden nicht etwa schöner dadurch — wir sind schon schön! —, sondern es gehört zu unserem besonderen Spaß, uns im Spiegel zu besehen und zu schminken und zu schmücken. In den Waschräumen hier sind auch mehr Spiegel angebracht als in Waldfels. Mädchen kleiden sich so, weil sie Spaß daran haben — nicht etwa um anderen zu gefallen, wie manche Männer denken.”

Helga protestiert: “also Jungen sind auch schön, Rollia besonders!”

Federike, die schon etwas älter ist, sieht mich von oben bis unten an und hilft mir mit dem noch unreifen Entschluß, auch für mich mehr zu tun: “du siehst noch nicht so schön aus, wie du könntest! Darf ich dir mal zeigen, wie wir uns schminken? — wie wir eine Halskette oder ein Tuch um den Hals legen? — wie ich mit Genuß meine Strümpfe und Schuhe aussuche und anziehe? Das geht nicht einfach so, sondern der Spiegel hilft uns, ich glaube, er hilft uns, daß der Schmuck und ich eins werden, miteinander verschmelzen — oder so ähnlich. Ich und mein Körper und alles drum herum sollen doch zusammen gehören, oder? Das ist jedenfalls mein Ziel.”

Ich besuche Federike mal in ihrem Zimmer und sehe: sie hat da einen langen Spiegel stehen, in dem ich meinen ganzen Körper gespiegelt sehe. Sie stellt sich vor den Spiegel und zieht ihr Kleid etwas hoch und betrachtet ihre Beine — “sind das nicht schöne Beine, Du? — und wenn ich das Kleid noch etwas höher ziehe, dann sehe ich so aus wie das Bild in Bärbel´s Zimmer.” Mir scheint, ich muß mir das Bild von Bärbel mal ansehen, irgendwann mal.

Und sie hat den Spiegel gegenüber dem Bett aufgestellt, so kann sie sich ansehen, wie sie sich an- und auszieht. Sie zeigt mir ihre Schmuck-Schatulle und will mir ein paar Ohrringe anhängen. Doch “du hast ja gar keine Löcher in den Ohrläppchen! Das müssen wir mal nachholen. Wir fahren irgendwann mal in die Stadt und lassen die Löcher rein machen.”

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Diese Idee erschreckt mich sehr, denn damit wäre ich ja für immer zum Mädchen gestempelt: OHRLÖCHER? Das will ich nicht — doch ein paar Wochen später will ich, und Federike und ich fahren los.

Erst kommt sie noch zu mir und will etwas zum Anziehen für mich aussuchen, aus dem Schrank. Sie hält das leichte grau-blaue Mantelkleid hoch, das mir bisher zu mädchenhaft war. “Das ist doch besonders schön, das steht dir ganz klasse, du mußt aber den Gürtel weglassen, oder nur lose umhängen. In diesem Kleid bist du richtig Mädchen, willst du das?” Das Kleid öffnet sich leicht vorne, und wenn ich mich hinsetze muß ich aufpassen, daß die Strumpfhalter nicht rausgucken, immer wieder ziehe ich es runter. Es ist mir auch ein Genuß dabei, das Kleid flattert und lässt viel Frische an die Haut, doch ich fühle mich scheu und verlegen damit.

Und dennoch: Mädchen-Sein hat etwas Besonderes an sich, etwas Leichtes, ich fühle mich so offen, und das ist ein Genuß. Nicht alle Jungen mögen das glaube ich, doch ich bin ich . . .

 Wie wir in das Schmuckgeschäft gehen, wo das gemacht wird, zittere ich überall — vor Erregung oder vor Angst, ich weiß es nicht. Es ist so endgültig. Kann ich danach nie mehr richtig Junge sein? Es ist wie eine Operation. Und dann suchen Federike und ich noch zwei Paar Ohrringe aus, die mir stehen — wie sie sagt. Immer noch zitternd gehen wir raus. Dieser Weg durch die Stadt — das ist mehr als damals das erste Mal im Rock, das mit dem Rock war noch Verkleiden, doch nun, es ist wie endgültige Geschlechtsumwandlung: diese Löcher und dieses Kleid. Will ich das? Doch nun ist es geschehen.

Aber es ist auch so, daß ich zu den Ohrlöchern nicht ganz nein sage, es ist auch ein ja dabei. Eben, ein Stück Mädchen in mir, in meinen Tiefen, sage ich heute, Jahre später.

Anschließend schleppt sie mich noch zum Frisör, ich sitze auf dem Stuhl, er ist hoch und meine Beine baumeln frei. Ich sehe meine Knie in den feinen grauen Strümpfen an und freue mich über sie, ich habe schöne Knie. Wie die Friseuse mal draußen ist, ziehe ich mein Kleid etwas hoch und mache den Strumpf wieder fest, der sich vom Strumpfhalter gelöst hatte. Dabei bin ich wieder scheu und sehe umher, ob auch niemand zuguckt. Das ist noch alles so neu und ungewohnt — und dann die Ohrringe.

Die Friseuse kommt wieder herein. Wir überlegen, wie meine Frisur fraulicher wird: eigentlich sind meine Haare zu kurz dafür, aber die Friseuse meint, damit ließe sich schon was machen, so kurz seien sie ja auch nicht, “warum hast du sie dir denn so schneiden lassen? Nun habe ich die Schwierigkeiten . . . . , aber es wird schon gehen. In den zwanziger Jahren haben die Frauen viel kurze Frisuren getragen, so etwas werden wir jetzt daraus machen. Ich zeige dir mal ein paar Fotos von damals, und du suchst dir was aus, ja?”.

Und wir finden etwas, was zu mir passt und aus den kurzen Haaren hergerichtet werden kann. Federike kommt herein und schreit auf vor Verwunderung, wie sie sagt, “bist du schön geworden, das hätte ich nie gedacht, in so kurzer Zeit.” Sie gibt der Friseuse das Geld und legt noch ein gutes Trinkgeld dazu — vor Begeisterung.

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Also: lange vor dem Spiegel stehen. Nur für dieses ‘Fest vor dem Spiegel´, wie Petra sagt, gehe ich morgens oft in einen Waschraum der Mädchen und sitze mit den anderen ebenfalls lange vor einem Spiegel (eine lange Reihe von Wandspiegeln mit Frisiertischchen und Hocker davor ist gegenüber der Reihe der Waschbecken) — dabei lerne ich, was nötig ist, um ‘schön´ zu sein . . .  oder ich lerne einfach nur, vor dem Spiegel zu stehen und mein schönes Gesicht anzusehen und zu bewundern, ein wenig mit Schminke zu malen, oder ein Tuch um den Hals, um den Kopf zu winden und zu erleben, was das macht. Denn schön sind unsere jungen Gesichter ja sowieso. Die anderen zeigen mir alles, und es gibt viel Spaß und Lachen. Meine neue Frisur will auch gepflegt sein, und das alles kostet schon eine halbe Stunde jeden Morgen, bei anderen länger. Manchen Mädchen reicht die Zeit nicht und sie stehen früher auf.

Nur montags und donnerstags morgens darf ich in diesen Waschraum. Daneben ist ein Raum für die Duschen und einer für die Klos — die sind für mich natürlich verboten, das ist der Mädchen eigenes Reich. Neben meinem Zimmerchen habe ich ja mein Bad mit Dusche.

Ich will nicht sagen, daß ich sonst als Junge herbe und grob bin, doch hier bin ich schon feiner, aufmerksamer, sorgfältiger. Irgendwas geschieht, je länger ich bei Mädchen lebe. Sie sind anders als Jungen — doch wie sagte ich neulich zu Helga: Sind wir so erzogen worden? Werden Jungen zu Gröberem erzogen, oder wie geht das?

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 “Mädchen haben Angst vor Spinnen, stimmt das?” frage ich mal wie wir alle beim Essen sitzen. Fräulein Mansfeld sieht umher und wartet, daß eine was dazu sagt. Katrin meint, “ihr spinnt!” und alle lachen über dieses Wortspiel. “Also das habe ich nicht mit Absicht so gesagt, aber spinnen tut ihr doch.” Marianne hat die Burg schon bis in alle Ecken durchforscht, mit einer Taschenlampe, und hat dabei Tausende von Spinnen gesehen. “Das hat mir nun nichts gemacht. Doch was sagt ihr dazu, daß wir hier mit tausenden von Spinnen zusammen leben?” “Mich graust es schon davor,” sagt Helga. Und auch ich ekele mich vor so vielen Beinen und rechne, “tausend Spinnen bedeuten achttausend Spinnenbeine. Und wieviele Tausende von Kilometern von Spinnenfäden hängen hier herum? — alte und neue?” “Lichtjahre Kilometer!” “Nun, haben Mädchen nun Angst vor Spinnen?” fragt Fräulein Mansfeld, “ich jedenfalls finde sie auch eklig — aber Angst? Wir wollen mal abstimmen. Wer hat nun Angst?” Außer Marianne heben alle die Hand, ich auch. Doch vielleicht habe ich mir das erst hier angewöhnt, vielleicht bilde ich mir das ein, um nicht aus dem Rahmen zu fallen.

Nachher ist unsere Tischrunde besonders gickerig, das macht das Spinnenthema. Nach dem Essen kommen noch andere Mädchen und wollen auch so fröhlich sein, und wir alle gickern und fragen weiter, “haben Mädchen Angst vor Spinnen?” “haben Mädchen Angst vor Spinnen?” “haben Mädchen Angst vor Spinnen?” “haben Mädchen Angst vor Spinnen?” und so geht es den ganzen Nachmittag. Doch eine klare Antwort finde ich nicht, vielleicht war das eine echte Jungen-Frage.

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Die Schlosser- und Schmiede-Gilde: Ein einziger Mann ist also hier in Hochfels: Herr Mihme, der Schlosser. Wie in Waldfels kann jede eine Gilde wählen. Gilde? das ist ein Handwerk, in dem wir drei mal in der Woche in Lehrwerkstätten arbeiten und lernen können — so etwas wie ein Praktikum, aber keine richtige Lehre. Und Herr Mihme leitet die Schlosser- und Schmiedewerkstatt. Er ist alt und süß, das sagen sie alle. Er geht sehr auf uns ein, zeigt uns viel, was zu seinem Handwerk dazu gehört. Ich will bei ihm arbeiten. Wie ich ihn zuerst von weitem sehe, denke ich, da ist auch eine Frau, denn bei der Arbeit trägt er meistens einen langen Lederrock über den Hosen.

Jede bekommt eine lange Lederschürze um, um die Kleidung vor Funken und Öl zu schützen. “Hier könnt ihr schmieden — mit Feuer und Amboß, das ist männliche Arbeit, voller Kraft und mit sprühenden Funken.” Wir gehen zum Amboß und er holt mit einer langen Zange ein Stück glühendes Eisen aus dem Feuer. Auf dem Amboß schlägt er es mit einem Hammer so lange zurecht, bis sich am einen Ende ein langer Haken bildet mit einer Öse am anderen Ende. “Das ist ein Feuerhaken, wie wir ihn im Ofen benutzen können. Wer will mal?”

“Und die andere Art, mit Eisen umzugehen ist die Schlosserei, das ist eher die Arbeit für die feineren, zarteren Hände, eher für Frauen. Hier geht es um Millimeter, auch um glänzende Oberflächen und einwandfreies Funktionieren der Schlösser. Eine Frau hat feinere Finger um die Glätte oder die Unebenheiten abzutasten.” Am anderen Ende der Werkstatt steht eine lange Werkbank mit all den Werkzeugen der Schlosserhandwerks: Schraubstöcke, Feilen, kleine Hammer, Zollstock, Bohrmaschine, Drehbank — “alles klein für kleine Leute mit feinen Händen gemacht ...” sagt er. Oben an der hohen Decke ist eine lange Eisen-Achse mit  verschieden großen breiten Rädern angebracht, alles dreht sich, angetrieben vom summenden Elektromotor im Nachbarraum. Herr Mihme legt mit einer langen Gabel einen breiten Lederriemen über eines der Räder an der Decke und über ein Rad an der Bohrmaschine und treibt sie so an, “der Transmissionsriemen” sagt er.

Weil Herr Mihme meint, die Schlosserei sei eher für Frauen, beginne ich mit den Schlosserarbeiten — obwohl mich das Schmieden mehr interessiert. Doch das kann ich noch später anfangen. Eine Feile und einen faustgroßen, unförmigen Eisenklotz legt er mir hin und erklärt mir, wie ich diesen groben Klotz in einen Schraubstock einspannen und daraus einen Würfel herausfeilen kann. Das ist der Anfang meines Schlosserlebens, das sich noch durch die Jahre fortsetzen wird, doch das weiß ich jetzt noch nicht.

Ein paar Mädchen lassen sich das Schmieden zeigen, das ergibt nach einigen Tagen feine und schließlich verschlungene Feuerhaken — vielleicht zu fein für unsere Öfen — aber fein genug für diese schönen Mädchenhände. Ich bin ein wenig neidisch, denn ich denke, meine Hände sind doch ebenso fein und geschickt.  Später schmieden sie Kerzenhalter und anderes. Sogar Schmuck können sie bald herstellen, Broschen, und eine macht sogar kleine Anhänger für Ohrringe. Zum Abschied von Hochfels wird sie mir ein Paar schenken.

Ich aber mühe mich zwei lange Wochen mit dem Eisenklotz herum. So entsteht ein etwas schiefer Würfel, den ich am Ende fein poliere bis er glänzt. “Du hast viel Geduld, das ist gut für solche Sachen. Wenn du willst, kannst du noch ein Loch in die eine Spitze bohren und eine Schraube eindrehen, und später kannst du dir einen Holzklotz als Fuß für den Würfel machen und das Ganze als Erinnerung auf deinen Tisch stellen.” Ich sage, “nicht nur als Erinnerung sondern auch als Mahnung, Geduld zu haben.” Das gefällt Herrn Mihme.

Jeden Abend nach der Arbeit räumen wir die Werkstatt auf und reinigen sie. Gewiß: Herr Mihme macht das meiste, vielleicht will er nicht, daß wir uns dreckiger machen als es für “meine kleinen Mädchen” — wie er liebevoll sagt — angebracht ist. Einmal im Monat wird sie gewaschen, der Fußboden, das Werkzeug, die Maschinen  . . .  und so ist Herrn Mihme´s Werkstatt die sauberste und feinste Eisenwerkstatt, die ich in meinem langen Leben je gesehen habe — abgesehen von Feinmechaniker- und Uhrmacherwerkstätten.

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Die Näh- und Schneiderinnen-Gilde: “Das ist aber eine Schande,” ruft Katharina, “jetzt ist mir schon das dritte Mal der Strumpfhaltergürtel runter gerutscht, diese Haken sind wohl nicht mehr krumm genug, oder ich bin dünner geworden.” Sie meint die Haken, mit denen der um die Hüfte gelegte Gürtel zusammengeschlossen wird. “Das darf mir ja nicht in der Stadt passieren, daß plötzlich alles runter rutscht. Muß ich da einen neuen kaufen?” Bärbel rät ihr dazu, meint aber, “du kannst doch auch nähen und versuchen, neue Haken anzunähen.” Fräulein Päckelmann, die die Näh-Gilde leitet, meint, “Katharina, vielleicht isst du zu wenig und wirst tatsächlich dünner, hm?”

Und dann erzählt sie, wie es ihr mal als Schülerin gegangen ist: “ich bin in eine normale Stadtschule gegangen, und als ich so 14 war, ging mal mein Strumpfhaltergürtel in der Pause auf, ich wußte nicht, was für ein eigenartiges Gefühl das war an der Seite. Ich hielt gerade einen Haufen Bücher und wollte sie zur Klasse tragen, als das passierte. Dann merkte ich, der Gürtel rutschte, und mit ihm die ganze Unterwäsche, und die Strümpfe rutschten lose die Beine hinunter und schlugen dicke Falten an den Knien. Alles hatte sich gelöst. Ich war in Panik, und mit den Büchern in den Armen konnte ich nichts festhalten. Glücklicherweise stand da gerade ein Tisch in der Halle, auf den ich die Bücher absetzte. Immer noch wußte ich nicht, was ich machen sollte, etwa das Kleid hochheben und alles wieder in Ordnung bringen, vor allen Schülerinnen? Vor Verzweiflung fing ich an zu weinen, da kam eine Lehrerin vorbei, die das sah, was ist denn da passiert? und mich in einen Klassenraum schob, der gerade leer war. Sie kniete sich vor mir hin und — ich dachte ich müsste sterben — ließ mich das Kleid hochheben. Sie drehte mich um, und ich fühlte wie sie die Häkchen Stück für Stück wieder einhakte. Sie zog alles wieder hoch in die richtige Position. Erleichtert glättete ich mein Kleid und zog es wieder zurecht, doch rot im Gesicht wie ein Indianer blieb ich noch `ne halbe Stunde. — So kann es einem Mädchen oder einer Frau ergehen. Seid einfach sorgfältig mit eurer Kleidung und passt auf. Ganz sicher sind wir da nie, so etwas kann immer mal passieren.”

“Sind die Männer und Jungen da besser dran?” fragt eine. “Das mag schon sein, dennoch möchte ich nicht tauschen, diese düstere und harte Kleidung möchte ich nicht für mich,” meint Fräulein Päckelmann. „Dennoch: auch die Jungen ziehen dauernd an ihrer Hose rum, daß sie nicht rutscht. Und Hosenträger mögen sie alle nicht.“

Ja, viel wird genäht. Besonders Kleider nähen wir uns selbst, nicht alle, aber vielleicht ein Drittel der Kleider, die in den Schränken der Mädchen hängen, sind selbst gemacht. Auch Strümpfe machen wir uns manchmal selbst, wir nähen sie aus einer Stoffbahn, die Naht ist natürlich hinten. Unsere selbst gemachten Strümpfe sind meistens besonders originell, bunt und mit Mustern. Den Fuß kriegen wir meistens nicht so gut hin, und damit er nicht so sichtbar ist, ziehen wir Söckchen darüber. Manche machen sich zwei verschiedene Strümpfe, die sie auch so anziehen. Nur zum Unterricht müssen wir die üblichen Perlons anziehen, aber sonst  . . .  lange Strümpfe, die die Knie bedecken, sind immer ein Muß, aber dann haben wir alle Freiheiten: länger oder kürzer, alle Farben und Muster, die uns einfallen.

Zur Nähstube gehört auch eine kleine Bücher- und Zeitschriftensammlung. Fräulein Päckelmann hat da viele Mode-Journale gesammelt, auch sehr alte, aus denen wir Anregungen suchen. Ich könnte da Stunden über diesen Journalen sitzen, tue ich auch manchmal. Besonders Hüte und Mützen suchen wir daraus und machen sie nach. Einige Mädchen stricken auch Mützen, die sie aus den Heften abgucken, ganz elegante!

Einmal habe ich mir einen weißen Unterrock gemacht, an den ich unten eine Spitzenborte genäht habe, die Spitze hatte mir meine Mutti gehäkelt. “Nun wirst du aber richtig ein Mädchen,” hat sie geschrieben als sie mir die Spitze schickte. Wenn sie wüßte, WAS schon alles passiert ist. Vielleicht werde ich ihr später mal mein Tagebuch zeigen.

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Die lange Monika hatte sich mal eine dicke, braune Wolljacke gestrickt, und nun ist sie rausgewachsen. Ich bekomme sie geschenkt — mit der Bedingung, sie weiter zu geben, wenn ich mal rausgewachsen bin. Wie ich diese Jacke über mein Kleid ziehe, weil es draußen kalt ist, merke ich, daß die Nachmittags-Baumwoll-Strümpfe zu fein sind, passt alles nicht zusammen. In Stilfragen ist diese Schule groß — eben Mädchen-Schule. Was nun? Monika geht an ihren Wäscheschrank und holt ein paar braune, gestrickte Strümpfe heraus. “Die sind mir auch zu klein geworden, zieh sie mal an.” Oben sind zwei weiße Knöpfe an jedem Strumpf. “Hast du Lochgummi-Bänder? Die kannst du an deinen Strumpf-Gürtel knöpfen, und dann geht es. Für die üblichen Draht-Klammern sind sie zu dick, oder?”

Das wird für mich nun ein neues Mädchen-Fest, eine neue Mädchen-Erfahrung: nachmittags gehen wir raus, und da ziehe ich die Wollstrümpfe und die Wolljacke an — diese Strümpfe sind so lang, daß sie meine Beine bis oben hin bedecken, länger als diese Perlonstrümpfe vormittags zum Unterricht. Es wird schwierig, sie stramm zu befestigen, denn sie reichen ja fast bis an den Strumpfgürtel, und da ist nicht viel Platz übrig für die Dehnung der Lochgummi-Bänder, die ja die Strümpfe stramm halten sollen. Ab und zu muß ich sie wieder hochziehen. Dann können alle meine Unterwäsche sehen, aber meistens sehen sie weg.

So versuche ich, sportlich auszusehen: mein graues Wanderkleid und diese Wollsachen, dazu an den Füßen Schisocken und Wanderstiefel — garnicht dem Stil des Hauses entsprechend, aber ich mag das sehr, und die Kleine Helga sagt, “nun siehst du wirklich fast wie ein Junge aus. So mag ich dich auch!”


Die ganz eigerne Wanderkluft

Das wird nun meine `Wanderkluft´, und später zurück in Waldfels werde ich das weiter tragen, natürlich zur kurzen Hose. Wenn ich allein durch die Wälder wandere. Doch vielleicht auch im Rock wie auf dieser Zeichnung, warum nicht?

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Ein niedliches kleines Zimmer habe ich: ein Bett und ein Tisch, ein Stuhl, der Schrank auf dem Flur. Durch eine schmale Tür geht es in ein Bad mit Dusche, Klo und Waschbecken — wie ausgewachsene Menschen hier leben können, kann ich mir nicht vorstellen, es ist alles so klein. Wie gut, daß ICH so klein bin! Auf dem Tisch steht ein Bild: Da ist von hinten gesehen ein Mädchen im wehenden, weiten, bunten Kleid, das Kleid ist hellblau mit langen roten Streifen von oben nach unten, und unten hat es einen breiten roten Rand. Der Kragen ist auch rot und fließt weich um den Hals. Das Mädchen steht barfuß auf einem Berg und sieht hinunter in die Talebene unter Hochfels. Um den Kopf hat sie ein rotes Tuch, das vom Wind schon fast abgeweht ist. Später frage ich Bärbel, ob sie es hingestellt hat, denn sie hat es gemalt. “Ja, ich habe es dir hingestellt, du sollst dich doch immer erinnern, daß du hier bei Mädchen lebst. Und der Blick in die Ferne erinnert dich an deine Sehnsucht, weiter ins Leben hinaus zu laufen — oder so ähnlich. Du wirst schon selbst sehen. Ich sehe deine Sehnsucht in deinen Augen.”

Drei Tage nachdem ich hier angekommen bin, habe ich mich fertig eingerichtet, das ist nicht viel, aber Bücher und Schulsachen in ein Regal über dem Tisch anordnen und die Kleider und alles in den Schrank hängen und legen. Im Schrank finde ich ein kleines duftendes Säckchen. Es erinnert mich an meine Großmutter, die hat auf dem Waschbecken immer eine besondere Seife, die so duftet. “Deine Wäsche soll danach duften,” sagt mir Fräulein Mansfeld, die mir das Zimmer übergibt, “es sind Lavendelblüten, habe ich selbst im Schulgarten gezogen.”

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Fortsetzung hier: http://rudolf-bei-den-maedchen.blogspot.de/2012/07/des-jungen-gymnasiasten-rudolfs-mit-den.html  .

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Fortsetzung


Des jungen Gymnasiasten Rudolf's

 Leben mit den Mädchen

und dann als Schlosserei-

Praktikant


Zweiter Post: Fortsetzung des ersten Posts "Jugend 1949 ..."

den Anfang könnt Ihr hier lesen: http://rudolf-bei-den-maedchen.blogspot.de/2012/06/rolli-ein-den-madchen.html .


Eines Abends, wie ich mit hochgezogenen Knien auf meinem Bett sitze und lese, wird leise die Tür aufgemacht, und die kleine Helga — es gibt hier auch eine große Helga — schleicht herein, den Finger auf dem Mund. Sie hat ein langes weißes Nachthemd aus einem kräftig aussehenden Stoff an. “Darf ich?” und setzt sich auf meine Bettkante. “n . . . , ja, aber ich habe mich noch nicht ganz ausgezogen,” denn ich habe zwar schon mein Nachthemd an aber die Strümpfe nur etwas runter gezogen, mir wurden die Knie zu warm.

Helga zieht ihre Beine unter das Hemd und sitzt nun im Schneidersitz, lehnt sich an meine aufgerollte Decke. Ich lese noch etwas, eigentlich lerne ich englische Vokabeln. So weit wie ich sie schon kenne, mag ich diese Sprache — na ja, es ist die einzige Fremdsprache, von der ich überhaupt was weiß. Doch nun kann ich mich nicht mehr konzentrieren und sehe Helga an. Meine erste Nacht hier auf Hochfels habe ich ja in ihrem Zelt geschlafen, wir beide dicht an dicht — wie sie es von zuhause kennt. Helga hat mich — wie soll ich das ausdrücken? —, sie hat mir gezeigt, wie gut es ist, zu kuscheln und nebeneinander zu schlafen. “Diese Nacht möchte ich wieder neben dir schlafen, darf ich? Aber erst reden wir noch miteinander, ja?”

“Wie alt bist du?” fragt sie nochmal. Ich sage, Mitte Dezember werde ich dreizehn. “Da bist du ja einen Monat jünger als ich.” Wir rechnen nach und sehen, es sind nur zwei Wochen. “Oh, so ´ne alte Frau,” sage ich lachend. Sie lächelt nur, “ich kann es nicht erwarten wirklich älter zu werden. Irgendwie ändert sich so wenig an mir. Ich bin noch so kindhaft, dumm und klein. Mein Zwillingsbruder ist schon so viel größer,” sie zeigt eine Handspanne zwischen Daumen und Zeigefinger. “Und du? fühlst du dich auch so wie ich?”

“Nein, gerade in den letzten Wochen habe ich gelernt, so zu sein wie ich gerade bin, nicht jünger, nicht älter, nicht dümmer, nicht gebildeter. Irgendwie bin ich auch noch ziemlich Kind und klein, aber bei Jungen soll es ja angeblich länger dauern. — Was sind das eigentlich für Felsen da unten, wenn ich aus meinem Fenster sehe? Da möchte ich mal rauf klettern.”

“Die nennen wir die Falkenfelsen, da brüten Wanderfalken. Die können wir mal ansehen, von weitem, aber hochklettern dürfen wir nicht, sie sind so scheu und verlassen dann ihre Jungen. Ein Zaun ist um den Felsen gezogen ... Weißt du, ich finde das wundervoll, daß sich Menschen um diese seltenen und schönen Tiere kümmern. Hast du mal gesehen, wie die Wanderfalken eine Ente fangen? Im Flug, von hinten und oben, und Enten auf der Flucht sind schon sehr schnell. Ich habe gehört, daß der Falke in dem Moment an die 200 Stundenkilometer schnell fliegt, mag das stimmen?” und sie macht mit zwei Händen vor, wie die Ente fliegt und der Falke hinterher und sie von oben tötet, mit dem nach unten ausgestreckten Daumen reißt sie der Ente den Rücken auf. “Mein Daumen stellt die Kralle des Falken dar. Die Ente ist sofort tot und fällt zu Boden und der Falke kreist hinunter und frißt sie — oder bringt sie seinen Kindern.”

Helga fragt, “schläfst du etwa in Strümpfen, ich nie, höchstens im Winter, wenn es kalt ist.” Sie zieht ihre Strümpfe aus und schiebt ihr Nachthemd ganz hoch um das Leibchen loszuknöpfen, “komm hilf mir mal, mach mal hinten die Knöpfe auf.” Am Leibchen hat sie die langen Strumpfbänder. “Eigentlich bin ich zu alt für so ein Kleinkind-Leibchen, aber ich mag Leibchen lieber als die engen Gürtel um die Hüften.” Sie dreht sich um und zeigt mir ihre kleinen Brüste, “sag mal, etwas wachsen die doch schon, oder?”

Das mit den Felsen ist noch nicht alles beantwortet: “Gibt es denn keine anderen Felsen, auf die wir klettern können?” “Doch, hinter dem Falkenfelsen ist einer, den wir gut erklettern können, willst du mal? Am Sonnntag werden wir dahin gehen und dann ... du wirst schon sehen. —

“Zieh dich auch mal weiter aus, so geht das doch nicht, du schwitzt ja im Bett.” Ich ziehe mein Nachhemd aus, das Miederchen, die Höschen und den Strumpfhaltergürtel auch und bin nun ganz nackt — “magst du mich so sehen?” frage ich. “Ja, aber das Hemd mußt du nun wieder anziehen, so ganz nackt, ich weiß nicht, lieber habe ich dich neben mir mit etwas auf dem Leib.” Helga sinnt ein wenig und sagt, “doch eigentlich mag ich Nacktheit, das habe ich wohl von meiner Mutter, zuhause laufen wir oft ganz nackt rum, wenn es nicht zu kalt ist. Mein Onkel Oskar weniger, der schämt sich, glaube ich, vielleicht weil sein Penis so lang ist, er hängt immer sein Tuch um die Hüften, einen Wickelrock, Lungi nennt er ihn.” “Ja, da haben Frauen es besser, da hängt nicht so was rum, was einem Angst machen müsste.” “Also, Angst habe ich vor einem Penis nicht, schließlich habe ich einen Bruder. Und sein Penis ist auch nicht gerade klein, eher groß.”

Helga meint, ich soll mich auf den Rücken legen. Sie sitzt neben mir und streicht mit einer Hand leicht über meinen Bauch. Das berührt mein Innerstes so sehr und zart, daß es in mir an zu zittern anfängt. So was habe ich noch nie erlebt. Sie schiebt mein Nachthemd hoch und betrachtet meine Nacktheit. Leise berührt sie meinen Penis und meine Schenkel und meine Hoden, ganz weich und liebevoll, “wie schön, du hast gar keine Haare. Mein Bruder hat schon welche.” “Ich bin froh, daß es so ist, doch die ersten drei habe ich schon gesehen. Und du?” Helga zieht ihr Hemd hoch und zeigt mir, wie nackt auch sie ist. “So sind wir noch richtig Kinder, oder? Ist es DAS? Das müssen wir noch genießen, so lange es so ist.”

Und so reden wir noch eine Weile, ziehen unsere Nachthemden richtig an und legen uns unter die Decke. Der Mond scheint ins Fenster, und wir sehen uns noch lange einfach an. Die Helga hat ein so süßes Gesicht, ich kann die Augen nicht zumachen. In der Nacht wache ich ein paar mal auf und sehe sie wieder an, wie sie schläft. Wir legen unsere Beine dicht aneinander. Ich kann gar nicht richtig schlafen, am Morgen wird mir der Schlaf fehlen.

Doch den ganzen Tag war ich frisch und munter, und eine Englischarbeit habe ich mit viel Leichtigkeit und Aufmerksamkeit geschrieben. Hinterher denke ich, ich müsste vor jeder Arbeit zusammen mit Helga die Nacht verbringen.

Das Aufstehen in den beiden Schulheimen geht so: es läuft eine Schülerin (beziehungsweise ein Schüler in Waldfels) durch die Flure und singt einen kurzen Wach-auf-Vers eigener Wahl, vielleicht aus einer Oper oder einem Volkslied oder selbst erdacht. Fünf Minuten später läutet die elektrische Glocke und alle gehen im Turnzeug in den Hof, wo wir einen Morgensport machen, immer zu derselben Schallplatte und unter Anleitung einer Schülerin. Dann eineinhalb Stunde bis zum Frühstück.

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Helga sagte doch, “eigentlich bin ich zu alt für so ein Kleinkind-Leibchen, aber ich mag Leibchen lieber als die engen Gürtel um die Hüften.” Das finde ich nun wirklich zu kindhaft und versuche sie zu überreden, wenigstens ein Mal als Versuch einen Strumpfhaltergürtel anzuziehen wie ich und die meisten anderen Mädchen – so weit ich weiß – tragen. Sie stimmt zu und holt aus dem Schrank einen, der ihr gehört, doch den sie noch nie benutzt hat. Unter der Bedingung, daß ich dabei bin und ihr helfe. So wurde es dann, und die folgende Zeichnung zeigt, was geschah:


Sehr damenhaft, und Helga ist deswegen recht verlegen. Und kehrt erstmal wieder zurück zu ihrem Leibchen, das sie vorne knöpft.

Helga bittet mich, ihr zu helfen, versuchsweise den
Strumpfhaltergürtel anzuprobieren,
 den rechten Strumpf  habe ich schon angeklammert

So sieht die Klammer am Ende des Strumpfhalters aus - 
von Nahem gesehen


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Zum Turn-Unterricht haben die Mädchen eigenartige schwarze Turnhosen an: ich nenne sie Ballonhosen, denn sie sehen beulig aus als ob die Trägerin lauter Luftballons darunter hat, am Hosenbein ist nämlich ein Gummi. Ich habe auch so eine. Wenn wir uns umziehen, ziehen wir die Perlons aus, denn sie könnten kaputt gehen. Beim Sport in der Halle sind fast alle barfuß. Hinterher dauert das Anziehen recht lange, weil sich alle helfen müssen, daß an den Strümpfen die Naht wieder gerade sitzt. Deswegen sind die Turnstunden auch zehn Minuten länger als andere Stunden. Wenn wir draußen Sport machen, laufen wir oft barfuß, viele haben auch Turnschuhe, ich nicht.

Mädchen und Sport: das ist ziemlich anders als bei den Jungen. Die Mädchen sind nicht so ehrgeizig, sie wollen nicht immer die beste sein. Der Sport ist mehr wie ein Tanzen: sie sind so elegant und gucken immer darauf, schöne Bewegungen zu machen. Jedenfalls achtet Frau Deepen, die den Sport in unserer Klasse leitet, sehr darauf.

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Biologie und Erdkunde mag ich besonders gern. Beides haben wir bei Fräulein Mansfeld, meiner Stamm-Mutter. Ich mag diese Fächer, weil wir immer wieder von der Natur hören, und auch weil wir lernen, sie zu beobachten. Da ich gerne in den Felsen und Wäldern umherstreife — meistens in meiner neuen Wanderkluft —, passt das gut. Und weil Fräulein Mansfeld am meisten vom wirklichen Leben berichtet.

Besonders mit Pflanzen beschäftigen wir uns, und die Klasse hat ein Herbarium angelegt, jede Schülerin hat eine eigene Pflanzenart, von der sie Beiträge an das Herbarium bringen soll. Und wir lernen auch, die Pflanzen zu zeichnen oder zu malen. Besonders Bärbel, die allerdings in einer höheren Klasse ist, hat da Wunderwerke geschaffen. Später werden wir uns auch kleine Pflanzen im Mikroskop ansehen, zum Beispiel die Algen aus den Tümpeln und dem See — leider werde ich dann wieder in Waldfels sein, aber da haben wir ja auch ein Mikroskop, mal sehen.

Und Fräulein Päckelmann gibt uns Lebenskunde. Da lernen wir — und üben es auch —, wie wir Menschen sind und miteinander umgehen. Viele Sachen, die ich hier schreibe, hätte ich ohne Fräulein Päckelmann´s Unterricht nicht so schreiben können. Zu Lebenskunde gehört auch, wie der Menschenkörper gemacht ist, also “Biologie der Menschen”, wie sie sagt. Da habe ich manchmal Angst, daß ich nach vorne gerufen werde und von mir als Junge berichten soll oder mich gar nackt zeigen soll (um alles zu zeigen, was einen Jungen ausmacht) — aber das hat sie nie gemacht, sie projiziert Bilder aus Büchern an die Leinwand.

Frau Grabow kommt gelegentlich dazu. Sie ist etwas zurückhaltend. “Alle Lebewesen sind doch unsere Brüder und Schwestern, jedenfalls sehe ich das so. Deswegen esse ich auch kein Fleisch — manchmal kann ich es nicht vermeiden. Doch dann bitte ich das Tier um Entschuldigung, also eigentlich bitte ich die Seele des Tieres.”

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Die Gärtnerinnen-Gilde: Zur Schule gehören viele Gärten, die zum Teil auf dem Berg liegen, auf dem auch die Burg ist, andere sind im Tal in den Dörfern. Nicht meine ganze Zeit hier auf Hochfels war ich bei Herrn Mihme. Ich sollte auch noch in ein paar der anderen Gilden arbeiten, ich entschloss mich erstmal für die Gärtnerei, weil so schönes Wetter ist. Drei Frauen machen die Gärtnerei, am Ende des Krieges waren sie aus Ostpreußen geflohen und hatten früher kleine Bauernhöfe mit ihren Männern, die nun nicht mehr leben, sind im Krieg geblieben. Drei Arten von Gärtnerei haben wir: ein paar größere Flächen für Nahrung, also Kräuter, Gemüse, Obst und so, diese Flächen sind im Tal, und ich bin da nie gewesen. — Sie haben ein Pferd zum Pflügen und Wagenziehen. Mit diesem Pferd fahren wir manchmal aus, denn die Schule hat auch eine Art Kutsche, sehr einfach allerdings, mehr ein Kastenwagen, in den eine Bank gestellt wird. Neun Mädchen passen da hinein, wenn eine der Frauen kutschiert und eine der Mädchen mit auf dem Kutscherbock sitzt. — Für kleine Mengen von Gemüsen gibt es ein paar Gärten nahe der Burg; und ein paar kleine Ziergärten haben wir, die rund um die Burg liegen, an der alten hohen Burgmauer. Hier sitzen wir oft auf den Bänken, die an die Mauer gelehnt stehen, umgeben von den Blumen. Wenn die Sonne scheint, wird diese Mauer aus alten Steinen warm, und abends, wenn wir da sitzen, strahlt sie die Wärme wieder aus und wärmt den Rücken.

Für zwei Wochen gehe ich in die Ziergärten zum Arbeiten. Da habe ich gelernt: alle Pflanzen müssen zusammenpassen, in den Farben, in der Zeit, in der sie blühen oder bunte Früchte tragen, in der Pflege, und wie sie sich gegenseitig mögen. Und am liebsten hätte es Frau Kopischke, daß der Boden nie nackt ist, immer bedeckt mit den Pflanzen, die wir da haben wollen — oder aber mit Kompost. Meistens schickt sie mich, das Unkraut rauszuholen, sie sagt nicht jäten. “Nimm ein Schäufelchen und stich die Pflanzen, die wir hier nicht haben wollen, mit den Wurzeln raus — besser du gräbst sie aus — schüttelst die Erde ab und legst die Pflanze auf den Komposthaufen, noch bevor sie Samen tragen. Dann bedeckst du die leere Stelle mit etwas gereiftem Kompost.” “Was heißt denn das, gereifter Kompost?” “Auf den Komposthaufen legen wir alle alten Pflanzenreste und lassen sie vermodern. Dann, vielleicht nach ein paar Monaten, sind sie reif, um verrottet wieder auf´s Beet zu kommen und Fruchtbarkeit zu erzeugen, das ist dann der reife Kompost. Aus ihnen wachsen dann die neuen Pflanzen.”

Wie ich mich mit dem Schäufelchen in der Hand hinhocke und eine Weile den Boden und die Pflanzen betrachte, die Spinnen, wie sie umherlaufen, die kleinen Kräuter, die ich rausholen soll ... kommt mir die Erde unter mir ganz nahe. Ich bin ihr sehr nahe. Ich tue nichts, sondern ich merke wie eine Wärme aus der Erde von unten in meinen Körper eindringt, es ist wunderschön. Damit ich das noch mehr spüre, schiebe ich Rock und Unterrock hoch, und nun ist es, als ob Feuer aus der Erde unten in meinen Körper kommt, Flammen, die aber nicht heiß sind. Nur noch die zarte Seide des rosa Höschens ist dazwischen. Still muß ich sitzen bleiben, denn dieses ist sehr fein, aber auch stark. Ich mache die Augen zu und sehe ein Bild, wie dunkelrote Kristalle unter mir in der Erde sind. Von ihnen geht eine Art Seil oder Schlauch oder sowas von unten in meinen Körper und leitet ein Gefühl von Erde, von Sicherheit in meinen Unterleib. Ich glaube, wäre ich tatsächlich eine Frau, würde ich jetzt das Gefühl bekommen, daß die Erde hilft, daß ein Kind in meinem Leib wachsen kann — so nahe wie nun der Unterleib der Erde ist.

Die Gemüsebeete aber werden mit einer Hacke bearbeitet, im Stehen, um das Unkraut schnell abzuhacken und den Boden etwas zu lockern. Doch in den Ziergärten sollen wir mit jeder einzelnen Pflanze umgehen, sie ansehen und beurteilen, ob sie raus soll oder hier bleiben — denn auch sogenannte Unkräuter können schön sein und sollen für eine Weile stehen bleiben, damit wir sie kennen lernen. Henriette sagt, “so kannst du bestimmen, wie diese Lebensgemeinschaft im Ziergarten zusammengesetzt sein soll, welche Pflanzen da sein sollen und welche nicht.” 

Zum Arbeiten in den Gärten hat mir Henriette für meine Zeit auf Hochfels einen weiten, grünen und derben Träger-Rock geliehen, sie sagt, “Gärtnerinnen müssen grün gekleidet sein.” Henriette ist schon dem Abitur nahe und will Gartenarchitektin oder Landschaftsarchitektin werden. Pflanzen und wie wir damit umgehen können, um die Natur schön zu machen, wo wir Menschen sie vorher häßlich gemacht haben, das sind ihre Interessen. Sie sagt, “du mußt immer darauf achten, wie die Pflanzen zusammenpassen. Da gibt es in Potsdam einen Gärtner, Karl Foerster, der hat einen großen Pflanzenhandel und einen großen wunderschönen Garten, in dem er zeigt, wie wir Gärten anlegen können. Da will ich mal ein Praktikum machen und von ihm lernen bevor ich mit dem Studium anfange. Ob das gehen wird, weiß ich nicht, vielleicht haben die Kriegszeiten auch da alles schwierig gemacht, wahrscheinlich wurden da nur Kartoffeln angebaut, wie das so war. Hoffentlich läuft das nun wieder so wie früher.”

Henriette zeigt mir ein Buch, auf dem steht der Titel Vom Blüten-Garten der Zukunft. “Es ist von Karl Foerster geschrieben,” sagt sie, “schon 1917, mitten im ersten Weltkrieg. Ich lese dir mal vor, was er im Vorwort geschrieben hat: `Die Erdenzukunft ... wird ein Paradies der Naturbemeisterung und der Naturhingabe werden.´ Ist das nicht schön? Daran will ich mitarbeiten, das sind meine Ideen für mein Leben.” Ich nehme das Buch, blättere darin. “Es ist wohl ein kostbares Buch?” “Ja, sehr. Sieh mal hinten sind ein paar Fotos von seinem Garten in Bornim, das liegt bei Potsdam. Ist der nicht schön? Herr Foerster ist nun 75, ich habe mal den Garten besucht und ihn gesehen — alt und würdig und schön dieser Mann.

“Er soll mal gesagt haben daß sein Garten ein `Wildnisgarten´ ist, daß er `Wildnisgartenkunst´ betreibt. Das finde ich klasse: ein Ziergarten muß so sein, daß er wie eine Wildnis ist, aber für Menschen begehbar. Frau Kopischke hat nun auch solche Ideen, seit ich ihr dieses Buch gezeigt habe. Sieh dir mal diese Bilder an. Ich habe auch ein Buch, aber zuhause, in dem ist Alpenwildnis fotografiert, ganz so wie Foerster sich das wünscht: alles bunt und voller Blumen, Alpenblumen.”
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Doch nun etwas anders: wie ist das mit der Wäsche, wer wäscht unsere Kleider? In Waldfels schicke ich die dreckige Wäsche alle 4 bis 6 Wochen in einem Koffer nach Hause und bekomme sie gewaschen zurück — wie alle das machen. Hier in Hochfels habe ich keine Lust dazu, die sollen zuhause nicht alle meine Mädchensachen sehen. Ich wasche alles selbst im Waschbecken in Bad hinter meinem Kämmerchen, denn eine Wäscherei haben sie hier nicht, dazu wäre eine große Waschmaschine nötig, und die gibt es hier nicht. — Das schönste dabei ist hinterher das Bügeln und Zusammenlegen der reinen Sachen. Am meisten Spaß machen einerseits dir Strümpfe, die ich natürlich nicht bügele, und auch die Kleider und Blusen, die ich bügele und in den Schrank hänge. Doch, die Strümpfe, die ich mir selbst geschneidert habe, mit all den bunten Flicken drauf, die muß ich bügeln. Hinterher liebe ich es, in den Schrank zu sehen, wie die Sachen da so ordentlich und schön hängen und nach den Lavendelblüten duften. Das hatte ich früher nicht, gehört wohl zu meinen Mädcheneigenschaften. Mal sehen, ob das bleibt, wenn ich nach Waldfels zurück gegangen bin.

Mit meinen langen Strümpfen habe ich besondere Erfahrungen: schon als kleines Kind habe ich gerne welche getragen, es gab nur welche aus weicher Baumwolle für uns Kinder, meistens in braun wie Erde oder Schokolade — leider nie bunte. Das besondere daran ist: in diesen Strümpfen fühlen sich meine Beine sicher und bewahrt. Besonders meine Knie, die ja so leicht verletzt werden, fühlen sich sicherer als wenn sie nackt sind oder in langen Hosen. Ich weiß nicht, wie das kommt, es ist einfach so. Irgendwann spritzte mir mal ein Schuß kochendes Wasser auf ein Knie und ich war sehr erschreckt. Das Knie war aber geschützt durch den Strumpf — so jedenfalls kam mir das vor, und ich war dem Strumpf sehr dankbar. Danach habe ich ihn geehrt, indem ich ihn an die Wand gehängt habe, aus Dankbarkeit, mit einem getrockneten Zweig einer Schlingpflanze drum rum. Meine ganze Kindheit schützten die Strümpfe meine Knie, doch wenn ich hinfiel, hatten die Strümpfe am Knie sofort ein Loch, und wenn das gestopft wurde, war da so eine Art Gittermuster auf dem Knie, witzig. Manchmal fragte ich meine Mutter, ob sie nicht in einer anderen Farbe stopfen könnte, rot oder rosa zum Beispiel, doch das wollte sie nicht. Noch immer trage ich gerne solche Strümpfe — außer wenn es zu heiß ist — lieber als diese Frauen-Perlons, die so empfindlich sind.

Einmal schickt mein Vater mir ein Paar neue Nylons, beige, blickdicht und mit einem grünen Zier-Ring ganz oben. “Für mein kleines Mädchen,” schreibt er dazu, doch ich weiß nicht, ob er das liebevoll oder ein wenig spöttisch meint. Diese Strümpfe sind so lang, daß sie wie die braunen Wollstrümpfe das ganze Bein bedecken, was ich gerne mag. Allerdings muß ich sie oben zusammenschieben, damit die Strumpfhalter sie fassen können.

Und dazu hatte mir eine Tante ein paar Wollsöckchen gestrickt, in hellgrünen und beigen Farbtönen, gut passend zu den Nylons.

Wie ich das erste Mal eine Laufmasche im Perlon-Strumpf habe, bin ich sehr erschrocken — ist der Strumpf nun endgültig kaputt? Es war gerade im Unterricht und ich zeige Lisa den Schaden. Sie lächelt und holte aus ihrem Handtäschchen eine kleine Tube UHU. “Faß mit der Hand unter den Strumpf, damit er vom Bein abgehoben ist, und ich tropfe etwas UHU drauf und dann laß es antrocknen, dann ist der Strumpf erstmal gerettet.” Sie sieht zu, macht die spitze UHU-Tube auf und legt einen kleinen Tropfen um das Loch, ich bekomme ein warmes Gefühl, so etwas mit einem anderen Mädchen zusammen zu machen. “Es ist gut, immer so eine kleine Tube dabei zu haben, ebenso wie Ersatz-Strümpfe und Ersatz-Strumpfhalterknöpfchen.”

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Noch was zu Strümpfen. Meine Beine sind recht dünn – “das ist so in unserem Alter” sagt Helga. Und ich ziehe auch deswegen lange Strümpfe an, damit meine Beine etwas größer oder stärker oder breiter wirken. Da eignen sich braune am besten – allerdings wären geringelte noch besser, aber die gibt es ja nicht. Zum Beispiel braun-grau-schwarz geringelt! Und schön ist es, wenn unten noch dicke, wollene Socken sind, das unterstreicht die Wirkung noch. Mal sehen, vielleicht bekomme ich mal ein Bild davon, wie ich damit so aussehe. Auch zu kurzen Hosen trage ich sie gerne, doch das wäre hier in Hochfels ja nicht gerne gesehen. Also vertröste ich mich auf die Zeit danach.

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Ab und zu lädt Frau Grabow Leute ein, die uns etwas Besonderes zeigen, zum Beispiel einen Glasbläser, der seine Kunst vorführt, oder den Förster der Wälder rund um Hochfels, der uns über die Wälder berichtet. Und so kam mal ein Indianer. Er ist Soldat bei der amerikanischen Armee in Kaiserslautern und spricht gut deutsch. Frau Grabow hatte ihn mal im Zug kennen gelernt und ihn eingeladen. Mister Johnson hat heute keine Militär-Uniform an sondern eine beige Hose und ein schlichtes sehr weites Hemd. Um den Hals trägt er ein rosa Tuch. Er hat viele Bilder aus seinem Volk mitgebracht. Es sind auch alte Bilder dabei, die die uralte Kleidung der Indianer zeigen, aus Leder und bunt. Besonders interessieren mich die Leggins, die die Männer um die Beine tragen, oder besser trugen, da sich heute alles verändert hat. Sie sollen die Beine beim Reiten oder Laufen im Wald schützen, ähnlich wie unsere Hosenbeine. Sie werden mit einer Lederschnur am Gürtel befestigt. Ich denke, solche Leggins muß ich mir mal machen, um in kurzem Rock — oder später in kurzer Hose — im Wald laufen zu können, wo doch meine Knie so schutzbedürftig sind. Zum Schutz sind sie bestimmt besser als die Strümpfe. Herr Johnson macht seinen Koffer auf und zeigt mir ein paar Lederleggins, die ich immer wieder anfassen und angucken muß. “Wer hat die denn schon alles angehabt?” An der Seite sind ein paar bunte Lederstücke angenäht.

Leder kann ich nicht bekommen, aber aus einem braunen Stoff nähe ich mir Leggins, doch ich traue mich nicht, sie unter einem Rock zu tragen, vielleicht später mal. Nun liegen sie erstmal im Schrank, und wenn mich die Sehnsucht in die Ferne packt, gehe ich hin und streichele sie liebevoll.

Doch auch Besuch aus Osteuropa bekamen wir: einmal kam eine eigenartige Schulklasse mit etwa fünfzehn 11-jährigen Jungen. Was uns sehr erstaunte, war nicht, daß sie fast alle lange Strümpfe trugen, sondern daß ihre Strümpfe alle zu kurz waren,denn aus den sehr kurzen Hosen sahen die Strumpfhalter raus, und ein Stück Schenkel-Haut war nackt. Die Strümpfe bedeckten gerade eben ihre Knie. Das kam uns sehr un-angezogen und komisch vor, aber wir hörten, daß das in den Ländern der Sowjetunion gerade Mode war bei den Kindern. Sollte wohl besonders niedlich aussehen, schätzten wir.


 Die Jungen aus Osteuropa, nach dem Gedächtnis gezeichnet


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Die Sonntage sind anders als die restlichen Tage der Woche: am Sonntag ist keinerlei Unterricht oder so was. Aber es gibt auch kein Mittagessen. Viele bleiben lange im Bett  und genießen das Leben. Heute stehe ich um halb neun auf und gehe im langen Nachthemd — wie die meisten — in den Ess- Saal. Dort steht wie immer am Sonntag ein großes Frühstück auf einem Tisch, heute ohne Porridge! Warm gehaltene Milch und Kräutertees können wir uns nehmen, für die Erwachsenen steht da auch Kaffee, aber nicht viel, denn er ist teuer. Auch Brötchen, Schwarzbrot, Kuchen (für jede nur ein Stück), Marmelade und alles was sonst noch dazu gehört, steht da. Das alles wird von der Frühstücks-Gilde gemacht und ab drei Uhr wieder abgeräumt. An jedem Sonntag ist eine andere Gruppe von fünf Mädchen dran, doch nur am Sonntag arbeitet diese Gilde, alltags macht das die normale Küche.

Die Frühstücks-Gilde hat die Aufgabe, das Sonntags-Frühstück zu einem besonderen Ereignis, zu einem Fest zu machen. Blumen werden aufgestellt, schöne klassische Musik wird aufgelegt — manchmal spielt die Musik-Gilde etwas —, und die Gilde bedient mit viel Fröhlichkeit und Eleganz. Und an jedem Sonntag macht die Gilde, die dran ist, etwas Besonderes, einmal werden auf Wunsch Spiegeleier gebraten, einen anderen Sonntag führt eine Gruppe ein kleines Theaterstück auf, mal tritt die Frühstücks-Gilde in Fantasiekleidern auf, mal berichtet ein Mädchen über ein wichtiges Erlebnis ihres Lebens oder stelllt ein Buch vor, und so weiter. Und deswegen kommen die meisten schon vor zehn Uhr herein, manchmal auch in Festkleidern — andere wie ich heute noch im weißen Nachthemd, nur ein buntes Tuch habe ich mir um den Hals gelegt.

Um das Nachthemd hatte ich mir mal einen Gürtel gelegt, das kommt mir ein wenig männlicher vor, ganz kann ich´s nicht lassen. Stelle mir ein Bild vor, das ich mal in einem Sagenbuch sah: Da stehe ich und habe noch ein Schwert am Gürtel, das mit viel Gold verziert ist. Um die Brust habe ich eine dicke Lederweste wie einen Burstpanzer — stelle ich mir alles vor. Dann handelt es sich natürlich nicht um ein Nachthemd sondern um ein mittelalterliches Ritterhemd oder so was.

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Die kleine Helga kommt zum Frühstück und sagt zu mir, “heute gehen wir zu den Felsen, ja?” Sie ist schon fertig angezogen in einem Kleid aus kräftigem Stoff, der auch mal einen Kratzer vertragen kann. Ich ziehe mir Henriettes grünen Rock an und die Wanderstrümpfe und wir gehen los. In einem Beutel haben wir etwas zu essen mitgenommen, noch vom Frühstück. Ja, und gute kräftige Schuhe haben wir auch an. Es wird bald warm und wir rollen die Strümpfe runter, nun sind wir nicht mehr im Burg-Gelände — ein witziges Gefühl ist es, wie die losen Strumpfhalter nun auf den Schenkeln baumeln. Erst beobachten wir die Wanderfalken. Lange müssen wir still warten, bis einer angestrichen kommt, wie Helga sagt. Die Kleinen schreien im Nest, aber sie sind von hier aus nicht zu sehen. Das Elterntier hat eine Beute im Schnabel, vielleicht eine Taube? Wir sehen noch wie der Falke in der Luft den Flug abbremst, doch dann verschwindet er hinter einer Felskante.

Helga meint, “wenn wir auf einen anderen Felsen klettern, können wir mehr sehen.” “Dürfen wir das denn, so nahe am Nest?” “Nein, wir nehmen einen etwas weiter weg.” Sie macht ihren Beutel auf und zeigt mir ein kleines Fernglas, “damit können wie alles sehen.” Wir müssen uns durch allerlei Gestrüpp schlagen, und ich bin froh, daß ich Henriettes Rock anhabe, dem sowas nichts ausmacht. Am Fuß des Felsens klettert Helga voran, “ich kenne den Weg schon.” Natürlich kann ich ab und zu unter ihren Rock sehen, und es ist wieder ein so warmes Gefühl, daß sie so frei zu mir ist. Später klettere ich voran und habe nun auch dieses Gefühl von frei-Sein, daß nun mein Rock nach unten offen ist, und Helga sieht gerne darunter, sie hat Spaß daran, wie sie sagt. Wir sind einander große und nahe Freundinnen.



Helga bei den Falkenfelsen – ihre Wander- und Kletter-Kluft,
wie üblich bei uns Mädchen der 1940er Jahre.

Oben ist eine kleine platte Fläche, wir setzen uns hin, und tatsächlich können wir nun das Nest — “Horst nennt man ein Falkennest” sagt sie — besser sehen, auch die Falkenkinder und die Eltern, wenn sie heran gebraust kommen, mit lautem Rauschen bremsen und auf dem Nestrand stehen. Die Jungen schreien gierig.

Auch sonst können wir viel von hier sehen. Die Sonne scheint warm, und ich ziehe meine Strümpfe ganz aus und tue sie in den Beutel, Helga auch. Ich kann nicht immer auf den Horst sehen, wenn nichts passiert, und so sehe ich meine Beine an und zeichne mit einem Finger Muster auf die Haut. Helga macht das nach und zeichnet auch auf meine Schenkel — doch wenn sie das macht, ist wieder dieses warme Gefühl da, und ich beginne das immer mehr zu genießen. “Siehst du, auch wenn du Mädchenkleider anhast, bleibst du ein Junge, und wenn dich ein Mädchen berührt, bist du ganz begeistert.”

Meine Beine sind braun obwohl ich diesen Sommer ja meistens Strümpfe anhabe. Das ist wohl meine Veranlagung, ich mag das, denn Käsebeine sind doch nicht so schön.

Wie wir später wieder zur Burg gehen, begegnet uns Fräulein Mansfeld und deutet auf unsere nackten Beine. “Nun müsst ihr aber wieder Strümpfe anziehen!” Das hatten wir ganz vergessen. Wir gehen in einen der Blumengärten, setzen uns auf eine Bank und ziehen unsere Strümpfe aus dem Beutel. Immer noch finde ich es eigenartig, wenn ich den Strumpf am Halter wieder befestige, es bleibt ein interessantes Gefühl. Ich glaube, dieses Gefühl ist sehr mädchenhaft — obwohl ich das früher ja nicht anders tat und daran gewöhnt sein müsste. Also wirklich, da ist allerlei Mädchenhaftes in mir, wahrscheinlich auch wenn ich nicht hierher gekommen wäre, aber nun sehe ich es noch mehr.

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Da ich ein wenig Querflöte spielen kann, darf ich auch mal die Musik-Gilde besuchen. Doch die guten Konzerte, die Mittwoch- und Sonntag-abends stattfinden, kann ich nicht mit gestalten. Nie in meinem Leben habe ich ein Instrument richtig spielen gelernt. Ich merke auch, die Mädchen sind die feineren Musiker, und das lasse ich ihnen gerne, denn ich höre ihnen mit Liebe zu. Im Lesesaal von Hochfels ist ein großer Teppich, auf den wir uns setzen, wir dürfen nur in Strümpfen hineingehen, so wertvoll ist der Teppich. Gegenüber sind ein paar Stühle und ein Klavier, und bald kommen feierlich die Musikerinnen, knicksen oder verbeugen sich vor uns — ganz nach eigener Wahl — und beginnen. Einer von den Jungen aus Waldfels ist manchmal auch dabei, er spielt Geige. Für mich ist auch ein Erlebnis, wie diese Mädchen sich bewegen, vorsichtig die Noten und das Instrument auf den Boden legen, wie sie den Rock beim Hinsetzen hinten glatt streifen und runterziehen, und nachher legen sie ihn auf den Knien zurecht — alles so elegant wie ich es wohl nie kann. Ja solche feinen Sachen sind die Besonderheiten der Frauen, denke ich, und da bin ich eben Mann und doch etwas grober.

Frau Mecklin sagt etwas zu der Musik, die heute gespielt wird und lenkt mit feiner — nicht fester — Hand die Gruppe, wenn die Mädchen nicht alles allein machen. Sie trägt heute ein langes weiches dunkelgrünes Kleid, das mit langen hellgrünen Wasserpflanzenblättern bedruckt ist, die sich im wogenden Wasser schlängeln. Irgendwo ist da ein kleines Tier zwischen den Blättern zu sehen, und jedesmal wenn sie das Kleid anhat, mache ich mir den Spaß, dieses Tier zu suchen und zu finden. Frau Mecklin hat auch ihre Freude mit diesem Kleid, das sehe ich, sie geht besonders elegant und fröhlich, wenn sie es anhat. Der Rockteil ist weit, und sie schwingt damit so weit umher, daß die Kerzen zu flackern beginnen. Sie hat uns mal erzählt, daß sie im Krieg als Krankenschwester in Lazarette verpflichtet war und schreckliche Leiden gesehen hat — nun will sie ihr Leben so still und freundlich und liebevoll leben, daß die leidenden und toten Seelen ihren Frieden bekommen, “das soll mein Beitrag sein, damit es wieder friedlicher wird auf der Erde.” Das verstehe ich zwar nicht, doch ich finde es schön, wie sie es sagt. Vielleicht werde ich es später mal verstehen, das wünsche ich mir. 

Röcke und Kleider sind ja schöner als Hosen oder gar ganze Anzüge. Das wissen schon ganz junge Kinder, und schon kleine Mädchen tanzen umher und lassen ihre Röckchen schwingen. Auch Jungen möchten das gerne, wir haben diese Kleidung aber nicht. Doch ein Junge in Waldfels hat mir erzählt, daß er früher, als er in der Schweiz lebte, sich weite bunte Röcke und Kleider von Mädchen geliehen hat und ganze Tage auf den Straßen und in den Parks seiner Stadt rumgetanzt ist. In Hochfels tanzen viele der Mädchen umher und vor einander und lassen ihre Kleider oder umgehängten Tücher fliegen, auch die Haare und Zöpfe — einfach so auf den Fluren oder im Klassenzimmer. Ich beginne nach ein paar Wochen Scheu auch damit, und das ist ein großer Schritt, denn nun bin ich mehr Mädchen als vorher.

Manchmal fahren wir mit dem Zug in die Stadt und veranstalten ein Tanzfest im Park. Da haben wir bestimmte Tänze einstudiert, doch auch frei tanzen wir nur so herum in unseren weiten bunten Tüchern und Kleidern und versuchen, die Zuschauer mitzureißen. Doch das gelingt selten, fast nur bei Kindern. Musik macht dann die Gilde mit Frau Mecklin.

Einmal ist da ein ziemlich zerrissener Mann, der hungrig und krank aussieht. Er fängt bald an, mitzutanzen, was sehr ungewohnt ist. Erst war er ein wenig tollpatschig, doch nun tanzt er recht elegant, er leiht sich ein rosa Tuch von mir und lässt es durch die Luft wehen, er wird immer besser. Nachher sitzen wir noch zusammen auf einer Parkbank und reden miteinander und ich schenke ihm das rosa Tuch. Er ist traurig und fröhlich zugleich und berichtet, daß er erst vor ein paar Wochen aus der Kriegsgefangenschaft gekommen ist und nun einen Platz sucht, wo er sich niederlassen kann, er war früher Tänzer in einem Ballett in einer Stadt, die nun polnisch geworden ist, “aber davon ist wohl nicht mehr viel geblieben nach all den Kriegswirren,” sagt er. Frau Mecklin gibt ihm ein paar Tips, wo er sich nun hinwenden kann. “Doch Sie können uns doch auch mal aufsuchen und etwas vortanzen und vom Tanzen berichten,” regt sie ihn an.

Wir laden ihn ein zu ein oder zwei, am Ende drei Bratwürstchen vom Stand und dann noch Eis, er genießt alles mit viel Freude und Lust und ißt sehr langsam, wir können uns wirklich viel abgucken von seiner Art. “Lange war ich nicht mehr mit so lustigen und schönen Mädchen zusammen,” sagt er versonnen.

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Frau Mecklin war mit einem Mann verheiratet, den ihr der Krieg genommen hat, er starb nach langer Krankheit in einem Gefangenenlager tief in Sibirien. Das haben ihr andere Gefangene berichtet, die zurück gekommen sind. Sie haben einen Brief von ihm mitgebracht, in dem er schreibt, daß er sie liebt und immer an sie denken muß, und das macht ihm das Leben im Lager leicht und hell. Wie sie das erzählt muß ich weinen, so schön ist das.

Trotz ihrer Fröhlichkeit hat sie auch viel Trauer. Wir saßen mal zusammen in dem Kaffee-Raum der Schule, wo wir zwar keinen Kaffee trinken aber manchmal still allein oder zusammen sitzen mit einem Glas Saft oder Kräutertee. Herr Kunze hatte mir gesagt, dieser Kaffee-Raum sei eine Art Meditationsraum, doch das verstand ich damals noch nicht.

Mit Frau Mecklin also sitze ich zusammen in diesem Raum und ich frage sie, wie sie nach all den Leiden und Schmerzen immer so fröhlich sein kann. “Ja, du siehst meine Kleider und wie ich mit ihnen lebe, ich mache mir immer neue und fröhlichere. Diese Kleider retten mich manchmal aus meinen Verbitterungen und aus der Trauer. Sie hängen in meinem Zimmer umher — statt Bilder —, und immer ist die Fröhlichkeit aus ihnen um mich herum. Und wie ich mich schmücke, mit Halsketten oder Tüchern, wie ich mein Haar zurechtmache . . .

“Doch wenn ich sehr traurig bin, gehe ich in Gedanken zurück in meine frühe Kindheit vor vierzig Jahren, die sehr fein und weich war, meine Mutter war so eine richtige liebevolle Mutter — was ja nicht alle Menschen bekommen. Dieses frühere Kind ist noch immer in mir, ich kann es an die Oberfläche rufen, ich esse dann zum Frühstück morgens einen süßen Kinderbrei, wie ihn meine Mutter immer gemacht hat, aus Pelargon und Obst und Sahne bereitet. Ich habe ein paar Teddybären, einen nehme ich in meinen Arm und erinnere mich an den Teddy in meiner Kindheit. Das alles hilft.”

Manchmal habe auch ich diese Traurigkeit. Dann gehe ich zu Frau Mecklin und lasse mir einen Kinderbrei machen und sie umarmt mich und wir liegen zusammen auf ihrem Sofa, Arm in Arm. Zu Weihnachten habe ich mir später einen Teddy schenken lassen, und der sitzt seitdem auf meinem Bett, und den knuddele ich, wenn ich so eine traurige Zeit habe. Für diese Zeit hier in Hochfels aber leiht mir Frau Mecklin einen von ihren, wir legen uns zusammen unter die Bettdecke, der Teddy und ich, und ich denke an die warmen Stunden im Bett meiner Mutti. Dann wird mir wieder wohler.

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Im Lesesaal hängt ein großes Bild, es ist wohl abgedruckt von einem berühmten Gemälde. Da sind ein paar Pferde, auf denen nackt Jungen sitzen und durch die Felder reiten. Die große Bärbel mit den langen blonden Haaren zeigt auf das Bild und sagt, “das muß doch wunderbar sein, so nackt auf dem Pferderücken . . . ” Sie malt ja, und sie ist eine der Reiterinnen auf Hochfels. Ihre Eltern haben der Schule drei Ponies hingestellt, Weiden und Stall gepachtet, und seit dem gibt es eine Reiterinnen-Gilde. “Ich möchte das mal versuchen, machst du mit?” fragt sie. Wieder eine dieser weiblichen Herausforderungen. Auf dem Bild ansehen ist eine Sache — ich habe schon manchmal sehnsüchtig die nackten Reiter angesehen und möchte auch mal  . . .  —, aber es wirklich TUN ist eine andere. “Wir können doch nicht so nackt hier durch die Felder reiten, das würde die größten Proteste geben. Wir müssen schon was anhaben, doch vielleicht nicht diese Reithosen, die so eng sind und uns vom Pferd trennen. Wir reiten einfach in weiten Röcken, oder?” Bärbel hat eine Idee: “wir nähen uns lange weite Kleider, der Rockteil muß so lang und weit sein, daß er wie eine Decke über unseren Körpern und dem Pferderücken liegt.”

Bärbel kann gut nähen, und so sind wir bald in der Nähstube . . .  “Natürlich dürfen wir nicht auf Sätteln reiten, das würde es nicht bringen,” sagt sie, “auf dem Pferderücken, und ohne Schlüpfer, ganz nackt unter dem Rock, mit der blanken Haut das Pferd fühlen.” Ich kann nicht so gut reiten, und bevor wir anfangen, lasse ich mir ein paar Stunden ohne Sattel geben um sicher zu sein. Es geht, ich und das Pony vertrauen einander, und an einem grauen Tag, wenn keine Spaziergänger rumlaufen, geht es los.

Es dauert lange, bis ich auf dem Pferd sitze, denn der viele Stoff des roten Rockes verknotet sich beim Aufsteigen immer wieder mit meinen Beinen. Dann habe ich´s gelernt. Oh, ist das ein wunderbares Gefühl. Ich bin dem Tier viel näher, fühle sein Fell an meiner Haut, fühle mehr als sonst die Bewegungen der Muskeln und der Wirbel vom Pony, aber auch die Bewegungen im eigenen Körper. Meine nackten Beine legen sich um die Seiten, und bald habe ich das Gefühl als ob ich ein Körper mit dem Pferd wäre — es gibt da so alte Bilder von Centauren, so komme ich mir vor: ein Mann und ein Pferd zu einem Körper verschmolzen. Bärbel und ich üben ein paar Tage, und schließlich galoppieren wir über die Feldwege. Wir müssen die Röcke zwischen Knien und Pferdebauch festhalten, damit der Wind sie nicht hochhebt  . . .

. . .  doch auch das geschieht, und wenn das Kleid nur noch um den Oberkörper und nach hinten weht und der nackte Körper vom Wind umtost wird, juchzen wir laut und hell — nun bin ich sogar eins mit dem Wind. Wer uns sieht, mag denken, da kommen die Verrückten von Hochfels. Ja, die Bauern hier um die Burg finden uns Mädchen schon recht verrückt, das macht uns aber Spaß.

Auf dem Pferd sitzend sehe ich an meinem nackten Körper hinunter und sehe, ich bin ein Junge — aber jetzt gerade mit der Bärbel auf einem ihrer Ponys bin ich ein Mädchen wie sie auch. Ist das nicht etwas Besonderes?

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Ja, die Nähstube: ein größeres Mädchen erscheint eines Tages in Strümpfen, die ein Schachbrettmuster haben. “Wo hast du die her?” — “selbst gemacht, lauter kleine schwarze Karos ausgeschnitten und auf die weißen Baumwollstrümpfe aufgenäht, hat zwei Wochen gedauert. Und sieh mal, ein Karo ist rot. Es sind Harlekinstrümpfe.” Die haben hier so viel Freude an solchen Sachen, entweder schmücken sie sich selbst oder ihre Zimmer: und immer was besonderes, auch sehr bunt. So was macht sofort Mode in der Schule: Nun erscheinen Strümpfe mit bunten Schlangenlinien, Röschen, bunt geringelte Strümpfe und so weiter. Ich sehe gar nicht, wo das alles herkommt, aus den gewöhnlichen Läden jedenfalls nicht. Dann erscheint was Neues: die Strumpfhalter werden immer bunter, eine stickt sich bunte Glasperlen drauf und fragt alle: “sieh mal, welches ist der echte Stein? Preisfrage.” Eine hat Bilder von Indianer-Männern gesehen, die auf ihren Pferden sitzen und nichts als ihre Leggins und ein Tuch zwischen den Beinen anhaben, alles an einem bunt geschmückten Gürtel befestigt: diese Halter und Gürtel werden nachgemacht, und bald laufen ein paar Mädchen in solchen bestickten Kleidungen rum, heben den Rock: “sieh mal, zu welchem Stamm gehöre ich?”

Eine Mutter hat einige Ballen Seide über den Krieg gerettet und färbt nun Tücher bunt, bemalt sie auch, die sie verkauft. Sie kommt zu einem Zwei-Tage-Kurs, und bald tanzen einige Mädchen mit neu erfundenen Mustern auf ihren Seidentüchern umher. Diese ganze bunte Welt der Mädchen-Fantasie und Lust will ich mitnehmen nach Waldfels. Vielleicht kann ich auch bei uns diese neue Lebendigkeit anregen.

Im Kaffee-Raum ist eine kleine Ausstellung an der Wand: die interessantesten Strümpfe, Strumpfhalter und Halstücher sind in Bilderrahmen aufgehängt.

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Sitze im sonnigen Blumengarten und döse. Kommt Herr Mihme und setzt sich dazu. Er ist bestimmt im Alter meines Großvaters, so um 60, denke ich. Ich frage ihn, “wie kommen Sie sich eigentlich so vor, so zwischen all den Mädchen und Frauen hier.” Lange sitzt er da und scheint zu überlegen, was er mir sagen will und kann. “Weißt du, ich glaube ich bin nicht so männlich, wie wir Männer sein sollten. Ich fühle mich den Frauen und Kindern sehr nahe. Mehr als den Männern. Im Krieg war ich oft in richtigen Männergesellschaften, das mag ich gar nicht, ist mit zu grob.” “Was meinen Sie mit grob?” frage ich. “Es fehlt das feine Gespür, es fehlt das Feine.

“Natürlich weiß ich, daß ich ein Mann bin mit allem, was dazugehört. In meiner Seele aber habe ich eine starke Hinneigung zum Fraulichen, ich glaube, in meiner Seele sitzt außer dem Mann auch eine kleine feine Frau. Ich habe da ein Bild: die beiden sitzen da und umarmen sich ganz dicht, und SO sind sie meine Seele. Wenn ich mit euch Mädchen zusammen bin, oder mit Frauen, dann fühle ich mich nicht als Mann sondern als eher Frau, oder besser, als garnichts besonderes, nicht Mann, nicht Frau.”

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Nun muß ich noch erzählen, wie es einem Mädchen auch ergehen kann in diesem Land: An einem freien Sonnabend wandern wir zu fünft in der Umgebung umher und sind sehr fröhlich, tanzen auf den Waldwegen, wie Waldfaune sagen wir. Auf einem Waldweg kommt uns ein älteres Paar entgegen. Ziemlich altmodische Leute, wohl längst pensioniert, gewiß noch aus dem vorigen Jahrhundert, könnten so alt wie meine Großeltern sein. Der Mann mit einem Spazierstock. Sie halten an, der Mann geht auf uns zu und fragt wo wir herkämen, doch da er nicht von hier ist, wie er sagt, kann er mit unserer Auskunft nichts anfangen. Wir seien wohl vornehmer Leute Kinder, meint er und lobt unsere guten Kleider und Blusen. Dann nimmt er seinen Spazierstock und hebt mit der Spitze das Kleid von Clarissa an um zu sehen, was sie darunter anhat. Seine Frau protestiert, doch er läßt sich nicht abbringen. Das Mädchen schiebt das Kleid runter und hält es fest und geht ein wenig zurück, er sagt aber, “ich möchte gerne mal wissen, was ihr Mädchen heute so anhabt, nicht wahr Hilda (seine Frau), als Kinder hattet ihr ganz lange Schlüpfer an und die Strümpfe gingen kaum höher als das Knie und hatten einfach ein Strumpfband ums Bein zum Halten, und deine Kleider gingen bis zu den Füßen — und alles war schwarz. Diese Mädchen heute sind viel adretter gekleidet — gewiß zur Freude ihrer Liebsten.” Wir sind alle sehr verlegen, denn ein Recht, das zu wissen mag er schon haben, aber nicht so. “Sie hätten ja erst mal fragen können, und wenn dann eine von sich aus den Rock gehoben hätte ..., was ich aber nicht glaube,” sagt Marianne, die Älteste von uns.

Wir gehen weg und hören noch wie die Frau ihrem Mann ein paar Worte zuflüstert, wahrscheinlich nicht sehr freundliche.

Unsere Stimmung hat sich sehr verändert. Erst sind wir still, doch dann kommt das Gespräch auf, was es eigentlich bedeutet, als Frau diese Kleidung zu tragen und fest dabei zu bleiben — durch die Jahrhunderte hindurch — und immer wieder in solche Fallen zu tappen. Das Risiko zu solchen Begegnungen ist doch groß. Eine will gleich morgen beginnen, nur noch Hosen zu tragen. “Das wäre dumm, nur wegen so´nem alten Daddy die Schönheit aus unserem Leben verbannen! Solche Dinge passieren immer mal wieder, und wir müssen einfach lernen, uns zu wehren ...” — “oder solche Daddys von der Schönheit und unserer Reinheit überzeugen, von der Schönheit des Weiblichen.” “Lieber sollten wir den Männern zeigen, wie blöd DIE sich kleiden und wie blöd sie dann zu uns sind, wahrscheinlich, weil sie selbst zu verkrampft sind um sich schöne Sachen anzuziehen.” “Unsere Kleidung ist die bessere.” “Hosen sind dumm — außer für bestimmte Arbeiten — na und Reiten, natürlich.”

Abends sprechen wir noch mit Fräulein Mansfeld über das Ereignis. Sie stimmt zu, daß wir eher unsere Schönheit ausstrahlen sollen als zu garstigen grauen Kellerratten zu werden — “na, das ist vielleicht übertrieben. Doch ich glaube ihr wisst, was ich meine. Ich habe eine alte östliche Technik gelernt. Die geht so: Stell dir vor, innen, in deinem Herzen brennt eine Kerze mit warmem Licht. Das Licht strahlt aus wie von jeder Kerze und erfüllt deine ganze Brust, deinen Körper. Du siehst nun deinen Körper als ein Licht, ein Lichtfeld sozusagen. Ein Licht, das in alle Richtungen weich und warm ausstrahlt, ein Lichtraum.

“Mach diese Übung so oft sie dir einfällt, bis sie immer häufiger wird und schließlich gar nicht mehr aufhört, das kann ein paar Wochen dauern. Du wirst sehen, daß die Leute anfangen, dein Licht zu sehen. Sie werden dich ansprechen, doch fange nie selbst an, sie zu fragen, laß geschehen wie es geht. Du strahlst nun Liebe aus. Und mit dieser Liebe, allumfassenden Liebe würde ich sagen, überzeugst du auch solche blöden Daddys. Du bist eine strahlende Fee in solchen Augenblicken.

“Aber bitte: es darf nicht etwa eine Waffe sein. Es muß deine ganz selbstverständliche Art werden.”

Wieder ist mir etwas so neu, ich kann es gar nicht so schnell behalten und lasse es mir nach ein paar Tagen nochmal erzählen. Ein Bildchen mit einer brennenden Kerze male ich mir und stelle es auf meinen Tisch — zur Erinnerung. Langsam gewöhne ich mich an diese Übung. Doch da wir darüber schweigen sollen, weiß ich lange nicht, wie es den anderen damit ergeht.

Wir fragen, “Fräulein Mansfeld, kennen Sie noch mehr solche Sachen?” “Diese Technik könnte noch weiter gehen: wenn deine Brust erfüllt ist von diesem liebenden Licht, laß es ausstrahlen durch deine Brustwarzen — oh das ist kein schönes Wort für etwas so Schönes —, laß es ausstrahlen in die ganze Welt, den ganzen Kosmos. Es ist wie mit der Milch für das kleine Kind, aber nun gibst du das liebende Licht der ganzen Welt.”

Leise sitzen wir und jede versucht, sich das vorzustellen. Das Zimmer in Fräulein Mansfeld´s kleiner Wohnung wird still, und einige von uns sehen es ganz gefüllt mit diesem Licht.

“Wo haben Sie das her?” “In Indien nennt man Gott ‘Schiwa´, er hat diese Techniken an seine Gattin ‘Schakti´ weitergegeben, als sie auf seinem Schoß saß und sie ihn fragte, wie die Menschen nun, nachdem er sie erschaffen hatte, leben sollten. Schiwa hat 108 solcher Techniken genannt, und sie hat sie an die Menschen weiter gegeben. So sind Liebe und Schönheit in die Welt gekommen — sagen die Inder.”

Dann kommt etwas erregt von einem Mädchen: “Da ist Gott ja ein Mann, das kann ich nicht glauben. Entweder ist Gott eine Frau, denn bei den Menschen ist doch die Frau die Schöpferin von neuem Leben. Oder Gott ist weder Frau noch Mann. Aber so?” “Wie ich das verstehe, ist Gott erst, wenn beide zusammen da sind, Frau und Mann,” sagt Fräulein Mansfeld versonnen, “aber ich weiß nicht viel davon, die Inder werden sich dabei was gedacht haben.” “Und was war, bevor es diese beiden gab, ein Mann-Gott?” Wir fragen Herrn Mihme, der mal in Indien war. “Da war Gott, weder sie noch er. Und Gott wurde es langweilig, so allein im All — oder im Nichts — und Gott teilte sich und es entstanden Schakti, das Weib, und Schiwa, der Mann. So kamen die Gegensätze auf die Welt und machten das Leben interessant — wenigstens für diese Gottheiten.”

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Ein paar Mädchen sind da, mit denen habe ich Schwierigkeiten. Zum Beispiel denke ich an Berta, die in einem anderen Stamm ist und zwei Klassen höher. Berta ist wunderschön anzusehen. Ich bin gerne in ihrer Nähe, weiß aber nicht, warum. Da ist aber etwas in ihrer Seele ... Außerhalb des Unterrichts trägt sie fast immer rote Strümpfe und eher schmale Kleider, sie achtet mehr als wir anderen auf die Schönheit und Sauberkeit ihrer Kleidung. Tief in ihr ist etwas, das mich sehr anzieht. Doch sie selbst mag dieses tief Innere wohl nicht, denn nur selten lässt sie es mal heraus, fast aus Versehen. Jedenfalls zeigt sie meistens einen Charakter, der — ich würde sagen — sehr künstlich ist. Sie kann auch nicht weinen, sehr selten jedenfalls, und dann geht sie schnell aufs Klo, damit niemand es sieht. Sie macht nur wenige Dinge mit, sitzt eher mit ein paar Freundinnen zusammen, und sie reden und reden und sonst nichts. Ich kann nicht lange dabei sein.

Irgendetwas ist da aber, das macht einen tiefen Eindruck auf mich. Vielleicht sieht sie selbst es nicht oder scheut sich, das zu leben. Statt dessen hängt sie sich mehr als wir anderen an Vorstellungen wie man macht oder das tut man doch nicht und so weiter. Ich glaube sie mag auch nicht, daß sie ein Mädchen, eine Frau ist. Vielleicht weiß sie nicht, was oder wer sie ist, weniger als die anderen Mädchen. Es ist so schade, und wenn ich sie ansehe und merke, daß ich ihr nicht näher kommen kann, bin ich traurig. Mehr weiß ich nicht über Berta — obwohl ich sie mag.

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Ein anderes Mädchen aber ist hier, die mag ich sehr, Leonore, sie fährt meistens in ihrem Rollstuhl, den sie mit viel Lebendigkeit bewegt, mit beiden Händen dreht sie die großen Räder. Leonore steht kurz vor dem Abitur, sie hat im Krieg, als sie Kind war bei einem Bombenangriff ein Bein ganz verloren und das andere ist schwer beschädigt und hat eine Prothese. Es fällt ihr sehr schwer zu gehen, mit zwei Krücken, die sie rot angemalt hat mit Blümchen-Abziehbildern darauf. Leonore hat ein Einzelzimmer, aber groß, und ein eigenes Bad, das für sie eingerichtet ist. Am liebsten will sie diese Besonderheiten nicht, doch sie muß sich immer wieder sagen lassen, “so ist das nun einmal, und du bist nicht hier um dir und uns deine Tapferkeit zu zeigen sondern um das zu lernen, was alle lernen. Du bist so schon tapfer genug, das reicht. Wichtiger ist es, daß dein Körper nicht so schnell verschlissen wird, indem du Sachen machst, für die er nun nicht mehr geeignet ist. Dann wirst du nämlich alle Kräfte ganz schnell verlieren.”

Oft sitze ich mit Leonore zusammen, oder wir spazieren in den Wald — einige Wege sind fest genug für ihren Rollstuhl. Leonore hat Erfahrungen mit ihrem Körper, die sonst keine von uns gemacht hat. “Weißt du, was ich gelernt habe? Alles, was da mit meinem Körper geschehen ist, zu lieben, und daß es richtig ist, auch wenn es wehtut und große Mühen macht. Das gehört zu mir, das bin ich, auch die körperlichen Schmerzen, auch die seelischen Schmerzen. Die kommen zeitweise, weil es nun nicht mehr so geht wie ich möchte. Habe mal einen alten Mann kennen gelernt, der hat mir so manches gesagt und viel geholfen. Wir treffen uns zwei, drei mal im Jahr, und dann bin ich ein paar Tage in seinem Haus irgendwo im Süden. Ich habe gelernt, in meinem Körper spazieren zu gehen und alles von innen anzusehen, so als Vorstellung. Und zu allem sage ich dann, hallo, schön, lieber Nerv, daß du da bist, hallo liebe linke Niere, wie gut du deine Arbeit wieder machst, hallo altes Herz, heute hast du wieder Liebesschmerzen gehabt, war´s schlimm? Und so gehe ich weiter. Eine halbe Stunde lang, und dann werde ich ganz ruhig, mein Geist wird ruhig — und ich bin ganz, ganz aufmerksam und sehe alles, was gerade los ist, innen und auch außen.

“Ja, so ist das mit der Liebe. Weißt du, was Liebe ist?” Ich habe keine Antwort. Lange sieht Leonore auf den Boden und aus dem Fenster, als ob sie nach einer Antwort sucht. “Nein, ich suche nach keiner Antwort, ich habe da so meine Ideen.”

“Warst du schon mal verliebt?” frage ich. “Ja schon, aber das meine ich nicht. Eigentlich bin ich immer verliebt, ich bin verliebt in das Leben und in die Menschen, ja alle Menschen, auch wenn sie sehr doof sind. Selbst ein Hitler verdient Liebe, denn ganz, ganz tief innen kann er nicht so furchtbar krank sein wie er sich außen gegeben hat, da hat Gott auch ihm ein bißchen von sich eingepflanzt. Ich liebe ganz gewiß nicht den Mann und all die anderen Verbrecher. Doch seine tief innere Seele, die er selbst so unsagbar schlimm verletzt hat und hat leiden lassen, die liebe ich auch. Wie sagen die Leute zu mir: dein Herz ist groß, ja so ist das. Habe mal gehört: Ich könnte die ganze Welt in Liebe umarmen,” und sie macht mit den Armen so eine Bewegung wie Umarmen. Nun liebe ich die Leonore, weil sie so schöne Sachen sagt.

Da kommt mir eine Frage, doch ich traue mich kaum, sie zu sagen: “du hast eben gesagt, wie du so in deinem Körper spazieren gehst und hallo sagst ... kannst du auch in dem Bein, das es garnicht mehr gibt, spazieren gehen?” “Ja, das ist eigenartig: ich kann. Nicht immer, aber wenn ich ganz dabei bin, wenn ich im Bett liege und alles um mich ganz einfach ist, dann geht es. Ich weiß, das es dieses Bein nicht mehr gibt, aber ich kann mit ihm sprechen,” sie lacht, “ich tue es einfach, und dann bin ich in dem Bein drin und kann ihm Dinge sagen wie Dank für die zwölf Jahre, in denen es bei mir war und meinen Körper getragen hat.” Leonore lacht ein wenig, aber ich muß weinen, so groß ist es, was sie sagt. Leonore umarmt mich, “schön, daß du so fragst.”

Und weiter: “wir haben ja nur EIN großes Wort, LIEBE, aber wir meinen so verschiedene Dinge damit. Ich habe mal gehört, daß andere Sprachen da mehrere Wörter habe, für die wir in deutsch nur das Wort Liebe benutzen. Der alte Mann hat mir das mal erklärt, ich hole male einen Zettel, auf den ich was aufgeschrieben habe.”

Das kann ich nun gar nicht verstehen: wie kann es so viele Arten von Liebe geben, daß jemand so viele Wörter dafür hat. Nach ein paar Minuten kommt Leonore wieder und schwingt mit dem Rollstuhl eine elegante Kurve um mich herum und steht plötzlich still neben mir — ich meine der Rollstuhl steht neben mir, mit der Leonore drin.

“Ich lese dir das mal vor: In der uralten indischen Sprache Sanskrit haben sie die Begriffe Anuraga, Bhakti, Prema, Mahabhava, Kama, und noch weitere. Anuraga ist die intensive Liebe für Gott. Bhakti die glühende Liebe und Hingabe zu Gott. Prema ist die höchste Hingabe an Gott, wenn Prema erlangt ist, erfolgt automatisch die Liebe zu allen Lebewesen, ja zur ganzen Existenz, das ist vielleicht mit Karuna gemeint, Karuna finde ich am schönsten. Prema ist also auch die Liebe zu einem anderen Menschen — aber erst, wenn du Gott liebst, sonst ist es keine Prema sondern vielleicht eher Begierde oder Ausnutzung des anderen, es ist oberflächlich. Karuna ist das Mitgefühl mit allem, also nicht Mitleid sondern, wie soll ich sagen: in Karuna bist du ganz auch im anderen Wesen, erlebst dessen Gefühle mit, siehst durch seine Augen die Welt. Irgendwie bist du dieses andere Wesen, irgendwie bist du jedes Wesen, bist du die ganze Welt.”

Na ja, Leonore ist schon in paar Jahre älter als ich, fast erwachsen, da kann sie sowas denken und sagen. Für mich ist das so neu und schwer verständlich, besonders Karuna, es verwirrt mich reichlich.

“Karuna? Stell dir vor, du stehst auf der Brücke da unten im Tal und guckst in einen kleinen Bach, da sind die Wellen auf dem Wasser, das weiter fließt. Stell dir vor du bist ein kleines Wassertier, das mit den Wellen hinabfließt und sich voll wohl darin fühlt, du genießt die Leichtigkeit mit dem Wasser zu fließen. Zwar bist du Rollia, die auf der Brücke steht und sich an das rostige Geländer lehnt, aber du bist auch dieses kleine Wassertier. Und du fühlst dich ganz eins mit dem Tier und dem Wasser und fließt mit ihm, dann bist du nicht Rollia. Dein Körper wird von der Strömung bewegt und genießt das. Du fühlst alles, was das Tierchen fühlt.

“Das ist Karuna, man kann auch Mitgefühl sagen — doch nicht Mitleid, das ist was anderes.”

Sie hat heute ein langes schwarzes Gewand an, das sie selbst mit bunten Blumen bestickt hat. Ich weiß gar nicht, ist es ein Kleid oder was. Es ist so weit als wäre es einfach ein großes Tuch über den ganzen Körper gewunden. Ja, da sind keine Ärmel, und ab und zu schmeißt sie eine Ecke des Tuches wieder über die Schulter. Über jede ihrer Brüste hat sie einen bunten Schmetterling gestickt — es muß lange gedauert haben.

“... in Karuna bist du die ganze Welt. Das heißt, wir gehören alle zusammen.

“Mahabhava ist ekstatische Liebe zu Gott. Kama ist die Liebe zu einem anderen Menschen, hauptsächlich Sex ... und so geht das weiter, vieles habe ich wieder vergessen.

“Ich glaube, was ich für meinen Körper empfinde ist Karuna, also Mitgefühl mit allem in ihm, auch mit den Gefühlen und Gedanken. Das alles haben mich diese großen Verwundungen gelehrt. Dankbar bin ich dafür, kann ich dir sagen. Fast bin ich sogar den Bomberpiloten dankbar, die die Bomben auf mich fallen ließen. Also jedenfalls bin ich nicht wütend auf die.”

Nun frage ich etwas, das gehört vielleicht nicht hierher: “Fühlst du dich in deiner Freiheit eingeschränkt durch diese Behinderung?” “Ja, in manchem ja, wenn ich nicht an all die Stellen im Wald gehen kann wie ihr, oder wenn ich sehe, wie du auf Bärbel´s Pferd durch die Felder jagst ... andererseits habe ich einen großen Freiheits-GEWINN erlebt durch diese Einschränkungen. Denn ich kann einfach nicht alle Regeln der Gesellschaft mitmachen, und da muß ich meine eigenen Regeln erschaffen, und das kann ich nach meinem eigenen Geschmack tun — DAS ist meine Freiheit, größer als bei anderen Menschen.”

Sonst trägt Leonore fast die gleiche Kleidung wie alle Mädchen hier, obwohl das sicher nicht leicht ist. “Du, Hosen an und auszuziehen ist aber schwieriger, denn dazu muß du mal aufstehen. Und zu pinkeln, wenn ich Hosen anhabe, ist fast unmöglich.” Ihre Röcke sind meistens lang bis auf die Füße. Oft saust sie mit ihrem Rollstuhl umher, und sie lässt die weiten Röcke fliegen im Fahrtwind, besonders den Berg runter auf der Straße. “Nicht immer ist dieses Leben leicht. Oft ist es schwere Arbeit, in diesem Körper zu sein, und dann wirst du wütend oder traurig oder verzweifelt ...” und nun weint auch Leonore ein wenig, sieht mich dann strahlend an und sagt: “Tränen sind wie Edelsteine im Gesicht, wenn du weinst, sieh mal in den Spiegel, wenn eine starke Lampe seitlich drauf scheint, dann ist das ganze Gesicht voller Edelsteine. Ich wische nie meine Tränen ab, sie gehören zu mir in diesem Augenblick, und alle dürfen sie sehen. Tränen sind schön!”

Ich wundere mich, was sie so alles macht und gestaltet. “Wo nimmst du die Zeit her? Denn du brauchst doch viel mehr Zeit für alles als wenn du gut gehen könntest?” “Ja, das ist wohl so. Ich brauche sehr wenig Schlaf, so vier bis fünf Stunden. Und dann ... ja, ich tue nur das, was mir wichtig ist. Ich lasse sein, was ich unwichtig finde, also einfach so rumsitzen und mit anderen nur so rumreden, und so weiter, das tue ich weniger.” Leonore redet sehr wenig, und wie ich sie in den folgenden Tagen so ansehe, merke ich: sie beobachtet alles sehr aufmerksam, denkt darüber nach (“ich FÜHLE eigentlich mehr, als daß ich über die Dinge nachdenke,” sagt sie mir später mal), und dann ist sie in einer inneren Welt, die nichts mit uns zu tun hat, die wir da um sie herum sitzen. “Weil ich mich sehr wenig errege, brauche ich so wenig Schlaf. Sich erregen zehrt an deinen Kräften, auch sich ärgern, ich ärgere mich fast nie.”

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Bärbel wohnt mit Clara in einem Zimmer. Ich besuche die beiden manchmal, und Clara hat uns einen Tee (Kräutertee) gemacht und stellt Kekse auf das Tischchen zwischen den beiden Betten. Ein kleiner Blumenstrauß steht da auch. Wie in allen Zimmern sind die Betten am Tage zum Sitzen, mit Tagesdecken bedeckt, die bei den beiden ganz bunt sind, wie sie sagen aus Mittelamerika, von Indianern stammend, “hat mal meine Großmutter mitgebracht”.

Und nun das Bild von Bärbel an der Wand: Ein kleines Gemälde doppelt so groß wie ein Zeichenblock. Es zeigt eine junge Frau oder ein Mädchen, die auf einem Mäuerchen sitzt und sich gerade bemüht, den Rock ihres Kleides wieder runter zu streifen, den ein Windstoß hoch weht. Es sieht so aus, als ob sie nicht wirklich will, daß der Rock wieder unten ist, sie zögert: was will ich denn nun? “Habe ich gemalt,” sagt Bärbel, “es heißt La Brise, die Brise. Ich will damit die Freiheit ausdrücken, die ich für mich beanspruche, mich so zu kleiden wie dieses Mädchen hier. Denn ich mag mich so kleiden, du ja auch, wie ich sehe. Sieh, der bunte Rock weht hoch, und du siehst die hellen Strümpfe, die Strumpfhalter und noch etwas ein weißes Rüschenhöschen — der Kleiderstil ist zwar altmodisch  . . .  aber wundervoll schön. Und das Jäckchen weht zur Seite, und in einer dünnen Bluse zeigen sich die Brüste. Und das Mädchen auf dem Bild zögert: was will ich eigentlich? — Doch dann: DAS bin ich, so bin ich Frau, so will ich´s sein, diesen Spruch habe ich bei Goethe gelesen, etwas anders allerdings. Das alles gehört zusammen zu mir.

“Dennoch, so´n alter Daddy soll sich nicht einfach die Frechheit nehmen, drunter sehen zu wollen ohne daß ICH es will. Ich will das voll selbst entscheiden wollen — oder meinetwegen die Brise, die darf das auch mal, ist ja auch ´ne Frau,” und Bärbel lacht, “ja, DIE Brise, also eine Frau.”

Ich frage die beiden, “was ist so besonderes an dieser Frauen-Kleidung, obwohl sie dich so verletzbar macht?” “Wie ich eben sagte, so bin ich Frau, so will ich´s sein — verletzlich zu sein ist eines der Risiken des Lebens, aber auch eines der Privilegien des Lebens, wie Fräulein Päckelmann sagt.” Bärbel trinkt vom Tee und knabbert an einem Keks. Sie hebt eine Hand und wedelt damit in der Luft, dann nach etwas Nachdenken  . . .

“ . . .  durch Verletzungen lernen wir, und deswegen sage ich JA zu dieser Kleidung, ich will lernen. Ich habe mal gehört, wir leben um zu erfahren — zu erfahren, wer wir sind. Als dieser alte Daddy der Clarissa das Kleid angehoben hat, lernte sie ganz schnell einiges über sich selbst, nämlich wie sie damit umgeht, wie verletzlich sie ist, aber auch: diese wichtigen Erfahrungen hätte sie nie gemacht, wenn sie immer Hosen trüge. Dann wäre sie immer abgeschlossen gegenüber Erfahrungen.” — Ich weiß gar nicht, woher diese Mädchen all diese Weisheiten haben. Macht das diese Schule? Warum lernen wir so was nicht auf Waldfels? — etwa, weil wir nie Röcke tragen?

“Wir Frauen tragen doch auch mal sichere Kleidung, Hosen und so. Aber ihr Männer verpackt euch IMMER so sicher — glaubt ihr jedenfalls —, dabei lernt ihr wenig über eure Seele, wollt die Verwundungen nicht zulassen, also deswegen erkennt ihr auch nicht, wie eure Seele damit umgehen würde, ihr könnt ja nicht weise werden. — Ach, pardon, du bist ja gar kein Mann, du bist ja auch ein Mädchen wie wir. Aber du weißt schon  . . . ”

Vielleicht wollen wir Jungen das nicht lernen. Unsere Interessen liegen an anderen Stellen, Sport, Technik, Wissen, Wissenschaft, Handwerk, Politik und alles solche praktischen Dinge — praktisch?

Clara gießt noch Tee ein. Sie ist noch jünger als ich, sie ist besonders lebendig, aber nicht nervös oder so: eine lebendige Offenheit — so bekam sie vielleicht mal diesen Namen, denke ich lächelnd. “Worüber lächelst du?” fragt sie, und ich erzähle ihr meine Gedanken. Lachend sieht sie mich mit ihren großen und bunten Augen an: “ja, ich weiß, ich hoffe nur, daß sich das nicht ändert, wenn ich älter werde.”

 “Verletzlich zu sein macht das Leben so riskant,” sagt Bärbel dann. Irgendwann sagt sie auch: “Ich finde, daß eine Mutter erst dann eine gute Mutter ist, wenn sie zuläßt, daß ihr Kind sich auch mal am Streichholz verbrennt, dann weiß es Bescheid.”

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Leonore hat die Naturschutz-Gilde eingerichtet — obwohl sie so wenig in die Natur hinaus kann, doch Regina leitet die Gilde, weil für Leonore bald das Abitur kommt. Doch “an mir selbst merke ich ja, wie leicht das Leben verletzt und getötet werden kann. Und Leben ist doch so etwas Schönes! Und das müssen wir doch beschützen, wo wir Menschen die Gefahren sehen können.” Besonders kümmern wir uns darum, daß die Wanderfalken nicht gestört werden. Wenn sie brüten, sind fast immer ein oder zwei Mädchen im Umkreis um das Nest. Sie haben da ein Feldtelefon und sind mit der Schule verbunden. Wenn etwas Verdächtiges geschieht, also wenn Leute sich zu sehr dafür interessieren, rufen wir schnell Verstärkung heran. Und dann kommen schnell zehn oder zwanzig Mädchen heran gestürmt — ich glaube, so können wir schnell Nesträuber in die Flucht jagen. Fräulein Mansfeld, die die Gilde betreut, sagt, daß manche Menschen die Eier oder Jungen rauben um sie für viel Geld in den Orient zu verkaufen, wo sie als Jagdfalken abgerichtet werden.

Die Naturschutz-Gilde kümmert sich auch um ein paar Teiche in den Umgebung, in die manche Leute immer wieder Müll schmeißen. “Wir holen den Müll raus, und einmal hat die Gilde ihn auf den Hof der Leute zurückgebracht, von denen er stammt. Die Bäuerin war so gerührt, daß sie uns mit Kakao und Kuchen bewirtet hat, und schließlich hat sie auch ihren Mann überzeugt, daß die Teiche erhalten und sauber bleiben müssen,” erzählt Regina, die dabei war.

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Es gibt ein paar Tage im Sommer, an denen die ganze Schule Ausflüge macht. Wir vom Stamm Mansfeld wollen dieses Jahr eine dreitägige Wanderung durch die Umgebung machen, alte Burgen ansehen und einen besonders interessanten Bauernhof besichtigen. Und zwei Nächte wollen wir in einer Jugendherberge übernachten. An einer langen Stange befestigen wir ein hellblaues Wimpel, auf das wir einen strahlenden Stern gemalt haben, auf dem ein Rabe sitzt. Das trägt  nun immer eine voran. Die Reitgilde besorgt noch einen dritten Wagen, und die Pferdewagen begleiten die einzelnen Wandergruppen und fahren Verpflegung mit. Das geht, weil von der ganzen Schule nur drei Übernachtungsplätze benutzt werden: zwei Jugendherbergen und ein Bauernhof, jeder Gruppe schläft in einem dieser Orte. Wir treffen zwei der anderen Stämme wieder, doch die Stämme bleiben für sich.

Während dieses Ausflugs trage ich meine Wanderkluft — die Strickjacke und díe gestrickten Wollstrümpfe. Allerdings rolle ich die Strümpfe meistens runter, was zu dem Sing-Spruch führte, “die Rollia rollt ihre Strümpfe runter!”

Und noch immer habe ich Henriettes grünen Träger-Rock, der sich auch gut für diese Wandertage eignet, er darf auch mal etwas erdig werden, er ist so unempfindlich. Außerdem hat er große Taschen — wie eine Hose denke ich, etwas jungenhaft. Einige Mädchen haben tatsächlich eine lange Hose angezogen, sie wollen ihre schönen Kleider nicht gefährden. Sie wollen auch mal “durch´s Gestrüpp kriechen.” Was das damit zu tun hat, verstehe ich allerdings nicht. — Nun dürfen unsere Beine mal richtig nackt sein, und ich genieße das am Tage. Immer diese langen Strümpfe, das ist schon lange kein Genuß mehr. Clara hat einen großen Hund, der auch in Hochfels leben darf, allerdings wohnt sie mit ihm ein einer Kammer außerhalb der Burg, außen an der Burgmauer. Der Hund heißt Frieda und läuft immer hin und her. Mit Frieda verstehen sich alle Mädchen, und wir haben das Gefühl, daß Frieda uns beschützt.

Die Burg, die wir besuchen, ist allerdings eine alte Ruine. Zuerst bewundere ich die dicken Mauern, die viel höher sind als die in Hochfels. Ich gucke durch die Zinnen, und ganz ernsthaft stelle ich mir kriegerisches Getümmel vor mit all den Bogenschützen und Schwertkämpfen. Die anderen aber suchen zuerst die Küche und die Wohnräume und raten herum, wo die wohl gewesen sein mögen. Dann kommen einige zu mir auf die Mauer und albern da herum. Einige stellen sich auf die dicken Zinnen und rufen voller Lust, “wie windig das hier ist, sieh mal wie mein Rock weht.” Sie necken mich und sagen, “du bist und bleibst ein Junge, du willst kämpfen und töten. Komm mal mit und suche die Küche.” Das war für mich nun ein Leichtes, denn der Rest der Küchenschornsteins ist noch da, und den entdecke ich sofort.

Der Bauernhof ist allerdings eine Fischzucht mit vielen Teichen. Alles wird uns erklärt, der Fischmeister selbst macht uns eine Führung, aber ich finde das zeimlich uninteressant. Hinterher lädt er uns ein, einige seiner Forellen gebraten zu essen. Das ist der beste Teil dieser Besichtigung, denn da sind alle fröhlich und genießen das Gericht. Die anderen Mädchen lassen sich ausführlich erklären, wie die Fischersfrau die Fische zubereitet hat, doch ich denke, sie hat sie einfach in die Pfanne geschmissen und fertig.

Von der Herberge aus gehen wir an einem Abend in den Wald und wollen Rehe und Hirsche beobachten, ein Förster will uns begleiten. Es wird recht kalt, und nun freue ich mich über meine dicken Strümpfe, meine Beine sind doch recht verpimpelt worden in den Wochen, in denen sie fast nie nackt waren. Oder nach einem ganz langen Rock, den ich um die Beine wickeln würde, doch ich habe sowieso keinen. Still sitzen wir am Rand einer Lichtung im Gebüsch verborgen, und wie es dunkel wird, stehen da tatsächlich plötzlich drei Rehe. Es geht so plötzlich, wirklich, und ich wundere mich, wieso ich sie nicht habe kommen gesehen. Zwei der Mädchen sind so begeistert, daß sie laut los juchzen — und da sind die Rehe natürlich weg, und wir gehen zurück. Es ist dunkel und etwas unheimlich, weil wir nichts sehen aber viel hören im Wald. Nun habe ich das Bedürfnis, etwas langes und festes um die Beine zu wickeln, nun ist der halblange Rock mir zu offen und die Beine trotz der Strümpfe zu nackt, und ich habe etwas Angst.

In der Jugendherberge sind auch ein paar Jungen. Wir fühlen uns stark in der Gruppe, doch wenn ich hier allein wäre, hätte ich mir zum Schutz schnell eine Hose angezogen. Ja, das höre ich auch von anderen Mädchen: in Gefahr ziehen wir lieber lange Hosen an, am besten solche, die unten zugebunden sind.

Und tatsächlich passiert es, was ich kaum so gedacht hätte: wie ich mal allein im Garten umher gehe, kommt einer der großen Jungen und neckt mich, ist frech und will meinen Rock hochheben — da ist es wieder! Natürlich wehre ich mich, ich will das nicht. Ich finde den Kerl eklig und stinkig und schreie ihn an, und da geht er schnell weg. Hinterher erzähle ich das den anderen, und ich sage, “ich möchte aber gerne Röcke tragen, das ist meine Art, und ich will mir das nicht durch so´n doofen Kerl vermiesen lassen,” und schluchze ein paar Minuten. Federike will mich umarmen und trösten, doch Fräulein Mansfeld nimmt ihren Arm wieder von meiner Schulter und sagt, “lass Rollia ein wenig schluchzen. Wenn du sie trösten willst, kommt ihr Weh nicht raus, sondern sie stopft es nach innen. Und bleibt da wie ein dunkler Kloß hängen.” Nach ein paar Minuten ist mir wieder wohl, und ich umarme alle voller Freude und Liebe und lache — über nichts. “Siehst du, das nenne ich stark sein, durch deine Tränen hast du deinen Schmerz in Schönes verwandelt und lachst wieder,” sagt Fräulein Mansfeld.

Ich weiß aber: ich bin in Wirklichkeit schwach und klein, bin ein schwaches Kind. Doch durch Fräulein Mansfeld´s Worte lerne ich: schwach sein und stark sein ist beides richtig, beides gleich richtig. Und dann kann ich auch stark sein — und sei es, mit den anderen zu weinen, wenn der Schmerz oder der Zorn da ist, und mit Tränen zu schreien und die Fäuste zu gebrauchen. Da ist Leonore mir ein Beispiel: sie ist so schwach in ihrem Körper, doch stark ist sie auch.

Klein Helga sagt dazu, “als die Flüchtlinge kamen, erzählten sie davon, wie schwach sie sich fühlten auf der Flucht, wie gedemütigt sie sich fühlten. Jeder fremde Soldat hätte alles mit ihnen machen können, jeder Flieger sie aus der Luft angreifen können. Sie waren völlig hilflos.” Fräulein Päckelmann, die mit ihren Mädchen dazu gekommen war, sagt, “und wißt ihr, da entsteht eine ganz feine Stärke, auch eine große Wachheit und Aufmerksamkeit. Dann wissen wir, was das Richtige zu tun ist. So liegen Schwachheit und Stärke ganz dicht zusammen.”

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Ja das mit der Wut: einmal sehe ich wie eines der Mädchen (ich will die Namen hier nicht nennen) ein anderes schwer beleidigt hat. Die beleidigte rennt heulend weg und versteckt sich in ihrem Zimmer, doch nach ein paar Minuten kommt sie wieder hervor, schäumend vor Wut sagt man ja, die Fäuste geballt, den Unterkiefer vorgeschoben, die Augen dunkel blitzend und stapft voller Kraft und Wut auf die andere zu und schreit sie laut und kraftvoll an. Nun fängt natürlich die andere an zu heulen, aber sie bleibt da, wir anderen stehen blaß geworden herum und tun nichts. Die beiden sehen sich lange in die Augen bis sie sich schließlich die Hände geben und sich dann umarmen, wieder unter Tränen.

Fräulein Päckelmann, die das aus einem Fenster gesehen hat, sagt uns später, “da seht ihr, wie eine ihre Wut ausgelebt hat. Wenn ihr eine Wut NICHT auslebt, dann versteckt sie sich tief in deiner Seele und kommt zu ungelegener Zeit heraus und wird dann ganz häßlich. Ihr beide habt sie aber ausgelebt — ohne euch wirklich zu verletzen. Und nun ist alles vorbei und vielleicht mögt ihr euch nun sogar mehr als vorher.” Eine fragt, “wie kann ich meine Wut denn ausleben, wenn die Gegnerin — sozusagen — nicht da ist?” “Der Himmel ist riesengroß, er kann ganz leicht vertragen, wenn du deine Wut da hinausschreist. Geh in den Wald oder wo du sonst allein bist, und schreie alles hinaus, was da in dir an Wut steckt. Egal ob alte oder ganz frische Wut. Und tu das ohne Worte, nur schreien, so laut wie du kannst und lange, manchmal brauchen wir eine halbe oder ganze Stunde dazu — natürlich mal mit einer Pause. Hinterher atme tief durch und tu, was gerade schön ist.”

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Manchmal kommen Eltern zu Besuch, am Wochenende. Meine Eltern kommen auch an so einem Sonntag, denn ihren Sohn als Mädchen zu sehen, finden sie schon spannend. Mein Vater ist recht verlegen und weiß nicht wie er mit mir umgehen soll, er steht da steif herum. Doch ich gehe direkt auf ihn zu und begrüße ihn — Kleine Helga sagt später, wie ein Mädchen seinen Vater begrüßt, so wäre ich gewesen, nicht wie ein Junge, doch ich verstehe nicht, was sie meint. “Du hast so gestrahlt, bist auf ihn losgestürmt und hast ihn gleich umarmt und geküsst, bist um ihn rumgetanzt und hast dich richtig gefreut, und dein Kleid ist umhergeflogen ... ich dachte schon, nun fängt die Rollia gleich an zu singen. Dann hast du ihn mitgenommen auf die Bude von mir und Henriette, und dann hast du einen Kakao für alle bereitet — das hätte mein Bruder nicht so gemacht.”

Bald werden ja Sommerferien sein, mein halbes Jahr wird noch nicht rum sein, und wir besprechen, ob ich in den Ferien zu Helga´s Familie mitfahren kann. Meine Eltern sind zwar traurig, aber sie meinen, das gehört zu diesem Experiment nun mal dazu, und vielleicht können Helga und ich ja auch mal zu ihnen kommen. Das wird aber schwer sein, da wir weit auseinander wohnen — “na dann später, in anderen Ferien” meint mein Vater.

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In Hochfels sehen wir selten Jungen, nur eine Lehrerin hat einen kleinen Sohn. Doch wie ich mal alleine im Wald umherwandere, treffe ich einen größeren Jungen, und wir kommen ins Gespräch. Wie ich beobachtet er Vögel und Pflanzen. Das ist schnell Gesprächsstoff. Wir setzen uns auf eine Bank und er erzählt, was er hier schon alles gesehen hat, welche Vögel und so weiter. Doch er sagt auch, daß er mich gerne mag und mich gerne wieder treffen würde. Ich habe den Verdacht, das soll wohl eine Liebesgeschichte werden. Das wird mir zu schwierig, obwohl ich ihn auch mag. “Du, ich bin aber ein Junge, weißt du,” sage ich schnell. Er sieht mich an und findet “Du hast aber dennoch ein süßes Gesicht, siehst ganz süß aus.”

Wie so oft, geht mir in diesem Augenblick wieder mein Strumpfhalter los — ich frage mich, muß ich nun aufstehen und mich umdrehen, wenn ich ihn wieder befestige (schließlich muß ich dazu ja meinen Rock hochheben) oder darf ich als Junge neben einem Jungen das alles einfach tun. Ich merke, nun ist es ein Spiel, aber welches? Spiele ich nun das Mädchen oder den Jungen? Oh je, was bin ich denn nun eigentlich? Der andere löst aber alles ganz leicht: “du, dein Strumpf ist ja lose, mach ihn doch wieder fest!” und neben ihm auf der Bank sitzend schiebe ich den Rock hoch  . . .

Wir treffen uns nun ab und zu im Wald — ich weiterhin als Mädchen in schönen Röcken mit bunten Schleifen, er als Junge in diesen schwarzen bauchigen “Trainingshosen”, wie diese häßlichen Dinger heißen, die wir Jungen alle so oft tragen. Ich mag das so: mich als Mädchen einem netten Jungen zeigen.



Wieder zurück in Waldfels

Ein halbes Jahr bleibe ich in Hochfels. Zwei Wochen nach meiner Rückkehr nach Waldfels fragt mich Herr Kunze — unser Heimleiter — was denn nun geschehen wäre mit mir. Erst verstehe ich seine Frage nicht richtig, doch dann sage ich, “als ich zu den Mädchen ging, war ich erregt, ja freudig erregt. Und sie haben es mir leicht gemacht und viel gezeigt. Es war schön, und ich habe viel gelernt und Freude gehabt.

“Vielleicht war es leicht für die, weil ich Mädchenhaftes an mir habe, weil ich es liebe — so wie mein Jungenhaftes auch.

“Jetzt aber, also neulich, als ich hierher zurückkam, kam es mir so vor, als ob ich aus einer reinen Welt zurück in eine unreine Welt komme. Diese Welt hier ist mir zu männlich, ich mag das nicht, fühle mich nicht wohl.” Ab und zu trage ich nun auch in Waldfels meine Wanderkluft, richtig mit Mädchenrock. Das ist immer interessant, denn die anderen Jungen haben dann besondere Hochachtung vor meinem Mut, wie sie sagen.

Herr Kunze sieht mich an und zögert mit dem nächsten Satz: “ ... du hast Freude gehabt, mehr als ich vorher gehofft habe — aber selbst ein halbes Jahr ist nicht ein ganzes Leben. Als Frau zu leben ist genauso schwer oder leicht wie als Mann zu leben. Es kommt auf dich an, was du daraus machst. Hast du in einem Feen-Land gewohnt? Warst du sozusagen Fee unter lauter Feen?”

Da protestiere ich: “ich bin doch kein Mann, auch keine Frau! Ich bin ein Junge — oder auch mal ein Mädchen. Ist das nicht was anderes?” “Ja, das stimmt. So sollte ich das auch sehen. Ein Junge ist doch reichlich anders als ein Mann. Wir sollten auch nicht sagen, du mußt dich darauf vorbreiten, einmal ein Mann zu werden, ich will das nie sagen. Solche Zukunftspläne sind jetzt unwichtig, die verwirren einen nur. Es ist richtig so zu sein wie du jetzt gerade bist.”

Das mit den Feen verstehe ich nicht. Die Mädchen waren doch keine Feen da in Hochfels. Erst nach einigen Tagen glaube ich zu verstehen, was Herr Kunze meint: Feen sind so etwas wie ganz schöne und reine Traumwesen — und er meint vielleicht, daß ich uns alle — die Mädchen und mich auch — als Feen empfunden habe, wie Feen — weil es so schön war. Ich möchte mir ein Bild über mein Bett hängen von einer Fee, vielleicht eines der Mädchen auf Hochfels, ach nein, nicht eine von den Mädchen, die sind ja echte Menschen. Eine Fee ist aber ein Traumgebilde, oder? Das sind jetzt so meine Träume, Tagträume sagt man wohl. — Doch Feen sind wir NICHT, die Hochfelser Mädchen und ich, niemals.

Erstmal sage ich aber: “Hier in Waldfels ist wieder diese alte Art, wie Männer denken, die mich abstößt. Ich weiß nicht, ob ich das so genau erklären kann. Zum Beispiel das mit den Wettbewerben, im Sport, in den schulischen Leistungen, in der Tischlerei — wo ich wieder gerne bin —, wieviel Geld die Eltern haben und noch manches andere. Auch wie gut ein Lehrer ist, oder wie beliebt. Oder wie schnell ein neuer Autotyp ist  . . .  alles auf gute Leistung ausgerichtet, nur das! Und diese düstere Kleidung! Auch sowas wie Sie damals berichtet haben über uns, wie wir uns in der Stadt gegenüber Mädchen verhalten haben.” Und dann fällt mir eine Bemerkung von Fräulein Päckelmann ein:

“Fräulein Päckelmann ist die Weiseste dort, ich mag sie am meisten. Sie sagte mal, `Selbst in der Religion wollen Männer immer recht haben. In der Politik schon gerade. So entstehen immer wieder Kriege.´ Sie sagt auch, `aber um die Schönheit einer Stimme, eines make-up oder eines schönen Kleides oder für ein paar besondere Kochrezepte würde man nie Kriege anfangen. Deswegen würden die Kriege nie bei Frauen beginnen.´ — Ach ja, da sage ich schon wieder `man´. Ich glaube nach dieser Zeit mit den Frauen und Mädchen sollte ich lieber `frau´ oder `mensch´, aber auch `man´ sagen, je nachdem, was ich wirklich meine.

“Ich fühle mich etwas traurig jetzt.”

“Möchtest du denn ganz bei den Mädchen und Frauen leben? Wäre das dein tiefster Wunsch, ganz tief innen?”

“Weiß ich nicht. Ja, da ist so ein tiefer Wunsch. Na ja, das Feen-Land vielleicht. Aber das geht ja nicht. — Doch ... wissen Sie, ich liebe ja das Abenteuer, möchte immer was Neues erleben, möchte sehen, wie das Leben wirklich ist. Also, ich bleibe hier und werde sehen, wie ich zurechtkomme. — und was dabei herauskommt. Und meine Wanderkluft hilft mir dabei, zu mir zurück zu kommen, wenn ich zu weit abirre.”

Herr Kunze will mich aufmuntern: “Nein, so nicht. Früher habe ich gesagt, ihr sollt nach den Erfahrungen in Hochfels den anderen Jungen hier davon etwas zeigen. Ihr habt nun eine Botschaft mitgebracht, denke ich. Lebe diese Botschaft — nicht indem du Mädchenkleider anziehst, sondern indem du ein Junge bist, für den die Mädchen und Frauen ganz sind, voller Liebe sein Leben erfüllen. Über den die Frauen sagen können, der hat eine hohe Achtung vor den Frauen.

“Deine Aufgabe war und ist, dieser Botschafter zu sein. Dann darfst du auch gerne deine Wanderkluft anziehen.”

Mir ist diese Aufgabe etwas zu schwer, glaube ich. Auch lenkt sie von meiner Abenteuerlust ab, denn ich sehe schon: wenn ich von meinen Erlebnissen erzählen will, machen die anderen Jungen die Ohren zu oder sprechen sofort von etwas anderem. Es ist etwas wie Brotteig, so zäh, ohne Form oder Schönheit oder Freude.

“Ja, eigentlich — tief innen — möchte ich ganz bei den Mädchen und Frauen leben,” sage ich noch mal, “doch ich weiß auch, daß mein Leben als Kind bald zuende sein wird, und dann, als Mann, kann ich nicht mehr wie ein Mädchen sein, in keiner Weise. Das finde ich traurig, daß die Natur uns zwingt, ein Mann zu werden, einen dahin drängt, doch da ist wohl nichts zu machen.” Herr Kunze sieht das auch so und meint, ich solle doch das Schönste aus dem machen, daß ich mich langsam zum Mann hin entwickle.

“Aber du lebst JETZT. Ich kann nur empfehlen: lebe so, wie du JETZT bist, jetzt, als ein Junge von 13 mit deinen eigenen Gedanken und Interessen. Für eure Zukunft aber wollen wir Lehrer schon sorgen. Das ist nicht die Sache der Kinder und Jugendlichen.”

Das nimmt mir eine Sorge: “ich darf also so sein, wie ich will?”

“Ja ja, gewiß ... also fast, aber nicht ganz. Frage dich mal: ‘was will ich wirklich, was will ich wirklich?´ und immer wieder. Sowas meinte ich vorhin als ich sagte ‘tief innen´, es geht um das, was wirklich ist, nicht um Anschauungen und Wünsche, die eigentlich von anderen erdacht sind und die du dir nur abgeguckt hast — so machen es ja die meisten  . . .

“Um das zu erkennen, was ich WIRKLICH will, müssen wir etwas an uns arbeiten.” Ich frage nach einem Beispiel um das klarer zu verstehen. Herr Kunze erwähnt das Auto, “alle wollen wir ein Auto haben, auch wenn es gar nicht nötig ist. Und dann eine besondere Marke, oder die Kleidung, die sich nach der Mode richtet — das haben wir von anderen übernommen, oder von der Werbung oder so was.”

Es wird still um uns. Auf einem kleinen Tisch steht eine sonderbare Figur aus Metall, ein Mensch sitzt da mit überkreuzten Beinen, ich meine im Schneidersitz. Die Augen sind zu, und die Hände kreuzen sich auf dem Schoß. Das Gesicht ist so, daß ich nicht erkennen kann, ob da eine Frau oder ein Mann sitzt — oder ein Mädchen oder ein Junge. “An dieser Figur siehst du, wie wir Menschen eigentlich sind, nicht männlich, auch nicht wie eine Frau. Eher wie ein Kind. Ein Kind ist weder Frau noch Mann, es ist Kind. Wenn wir DAS Kind sagen, dann zeigt das schon: weder DIE Frau noch DER Mann. Frau oder Mann werden wir erst, wenn wir nicht mehr Kind sind. — Manchmal frage ich mich, wäre es nicht richtiger, wenn wir gar nicht unterscheiden würden zwischen Mädchen und Junge.”

“Und warum machen wir das?” frage ich — das sind sehr eigenartige Gedanken, die er da sagt. Herr Kunze antwortet, “zwar sind Jungen und Mädchen nur wenig verschieden. Doch wir Erwachsenen machen diese großen Unterschiede, erziehen sie schon zu diesen Unterschieden, was manchen Kindern gar nicht gefällt und sie protestieren wild. Das sind die interessanteren Menschen, die da als Kind schon so protestieren. Vielleicht auch du mit deiner Wanderkluft.

“Und wir erziehen unsere Kinder so, weil wir von Anfang an einen jungen Menschen auf seine spätere Rolle vorbereiten wollen, nein hinlenken wollen. Wir haben etwas vor mit einem Jungen: er soll mal ein Mann sein. Da übertreiben wir aber: die Mädchen bekommen zum Beispiel eine Kleidung an, von der wir annehmen, daß sie mädchenhaft ist, frauenhaft. Und Jungen entsprechend. Und wir trennen sie in den Dingen, die wir ihnen beibringen. Und wir fördern bei den Mädchen noch die kleinen Interessen, die uns fraulich erscheinen, und bei Jungen die männlichen Interessen. Wir sagen euch schon jetzt, wie ihr mal als Mann sein sollt. Auch wenn es dir als Kind noch nicht gefällt und du lieber Kind sein willst.”

“Also SOLL ich mich DOCH darauf vorbereiten, mal ein Mann zu werden?” “Nimm´s nicht so ernst! Laß mir die Sorge,” wir sitzen nebeneinander auf einem Sofa, und Herr Kunze legt den Arm um mich und sagt, “sei Kind wie es dir gerade recht ist.”

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 “Ja, und diese Figur auf dem Tisch: die zeigt, wie der indische Meister Buddha ausgesehen haben mag: es ist die Art, wie er uns die Meditation zeigen will. Das ist eine sehr wichtige Lehre für mich, und ich wünschte, daß seine Lehren von den Menschen wieder ernst genommen würden, auch hier im Westen.”

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Herr Kunze kommt zurück auf den Schüleraustausch:

“Hier sind ja auch ein paar Mädchen aus Hochfels gewesen. Ich fand es sehr spannend, die zu beobachten, auch die Jungen zu beobachten. Die Mädchen wurden selten wirklich zu Jungen, sie haben es meistens nur gespielt, nur manchmal kam ihre männliche Seite durch, manchmal beim Sport oder Theaterspiel. Beim Diskutieren waren und bleiben sie ganz anders als die Jungen. Sie haben nicht wirklich diskutiert sondern alles eher gefühlsmäßig getan.

“Frau Grabow hat mir erzählt, daß ihr Jungen viel mehr zu Mädchen wurdet als die Mädchen hier zu Jungen. Es hat ihr Spaß gemacht zu sehen, wie ihr in der Schar der Mädchen aufgingt, euch hineinfallen ließt, ein wenig damit verschmolzen seid.”

Ja, so war es wohl, doch ich habe kaum bemerkt, daß ich mich hineinfallen ließ. Es hat einfach Spaß gemacht, und das war´s.

“Jede Frau hat ja auch Männliches in der Seele, so wie jeder Mann Frauliches in der Seele hat. Das zu entdecken, war für euch wohl das größte Erlebnis dieses Experiments. Doch ich glaube: ein Junge hat mehr Frauliches — oder Mädchenhaftes — in seiner Seele als umgekehrt eine Frau Männliches hat. Vielleicht werdet ihr später die Erinnerung behalten, wie eure weibliche Seele aussieht, was sie vermag, das hilft im Leben.”

Verlegen schüttele ich langsam den Kopf. Das alles ist schon wieder so neu für mich,  . . .  obwohl manches, was ich in Hochfels gefühlt habe, mir nun klarer wird. Damals konnte ich das noch nicht sagen, ich hatte nicht die Worte dazu. Herr Kunze sagt noch:

“Oft frage ich mich, wie ich mich selbst erkenne: wievel Frau ist in mir? Vielleicht mehr als in vielen anderen Männern. Was ist denn bei mir das Frauliche im Mann? Vielleicht, daß ich offen bin für vieles, was von außen kommt, ich erlebe das alles so stark, mit Gefühlen, mit Ernst oder Lachen oder Weinen — ja ich kann auch weinen, was viele Männer ja nicht mehr können, besonders nach diesem Krieg. Und noch was Eigenartiges: wenn ich mich im Spiegel ansehe: meine Lippen sind immer ein wenig offen, ich sage mal eine Art `Kußlippen´,” und er lacht etwas.

“Doch die meisten Menschen hier haben fest zugepresste Lippen, ich denke, das kommt von den schrecklichen Kriegserlebnissen. Wo ich die ganze Zeit lebte, in Thailand, da haben die Menschen offenere, weichere Lippen, wie Kinder.”

Still sitzen wir eine Weile zusammen, und ich fühle immer mehr Liebe zu diesem Mann. Mir kommen Tränen, wenn ich ihn ansehe, und wie wir uns in die Augen sehen, hat auch er Tränen, die ihm langsam über das Gesicht fließen. Nach langer Zeit fragt er,

“findest du es gut, daß die Schulen mit diesen Experimenten begonnen haben? — ich meine diesen Schüleraustausch? Sollen wir damit weitermachen? Wird das für alle gut sein? Wird es für das Zusammenleben der Menschen gut sein?”

“Ja, ich glaube. Wir sollten es machen. Ich würde auch wieder so etwas tun.”

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 “Für Dich, Rolli, habe ich aber noch eine andere Aufgabe. Wir hier in Waldfels leben doch ziemlich abgeschlossen von der Welt. Ihr erfahrt nur selten, wie die Menschen draußen sind. Das ist auch gut und hilft euch, in dieser schwierigen Phase der Jugendentwicklung, zu euch selbst zu kommen. Hier seid ihr nicht so abgelenkt von Unwichtigkeiten. Hier kann jeder mehr er selbst sein.

“Und weil du das Leben mit den Mädchen mit Gefühl und Festigkeit gelebt hast und viel daraus mitgebracht hast, möchte ich gerne, daß du auch die andere Seite kennenlernst. Wie wäre es, wenn du mal für ein viertel Jahr in einer Schlosserei arbeiten würdest? Bald wirst du 14 sein, und dann kannst du eine Art Lehr-Praktikum machen, ganz unter herben und derben Männern. Auch die Berufsschule besuchen, was dazu gehört.”

“Sind denn da keine Frauen?”

“Nein, man sagt, das ist kein Beruf für Frauen und Mädchen, da ist es zu derbe. Also die Männer sagen das, und die Frauen übernehmen diese Meinung einfach. Ich kenne den Leiter einer mittelgroßen Schlosserei weit weg von hier. Vielleicht würde er da mitmachen.”

Das ist mir aber unheimlich: Nun bekomme ich wirklich Angst. Wie würden diese Männer sein? “Herr Mihme ist doch nicht so. Oder ist er eine große Ausnahme, sozusagen ein Mädchen-Lehrer?”

“Ja, das glaube ich wohl, er ist eine große und schöne Ausnahme. Er ist gleichzeitig ein starker Mann und eine weiche Frau, ich meine als Mann stark und als Frau weich.”

Herr Kunze sagt dann:

“Alles in dem Mann-Sein bei den meisten Männern ist nicht echt, das wirst du merken. Herr Mihme aber ist ein ganz echter Mann, der auch seine innere Frau lebt und mit euch teilt. Die anderen aber spielen alle ein dickes Theater, spielen ihre Idee von Mann, oder wie sie es gelernt haben. Du wirst sehen: so werden Ideen oder Vorstellungen gemacht. Sie werden es auch mit dir versuchen, ganz einfach, weil sie es nicht anders kennen, und weil sie meinen, das wäre richtig.”

“Da muß ich mich doch wehren, ja?”

“Du wirst mit meiner Hilfe einen Weg finden. Wenn du Angst hast, wirst du dich da so durchschlängeln. Wenn du Mut hast, denkst und sagst du einfach: so bin ich nun mal, ich bin ich und bleibe so. Und: das oder das mache ich nicht mit oder sehe ich anders. Sie werden dich für überheblich halten. Doch so ist das Leben, nicht leicht.”

“Ja, ich will!” sage ich, doch Angst bleibt. Herr Kunze sagt noch etwas:

“Ob du Angst hast oder Mut, ob du schwach bist oder stark — für mich ist beides gut. Wichtig ist nur, daß du das erkennst und dazu stehen kannst.”

Ich bin nun häufiger bei Herrn Kunze. Einmal gehe ich zu ihm wie ich sehr traurig bin, ich weiß nicht woher das kommt. Da sagt er, “komm auf meinen Schoß und bleibe da ein wenig sitzen, lehne dich an.” Das ist das größte, das ich in diesen Jahren in Waldfels erlebe. Ich muß weinen, und er läßt die Tränen über mein Gesicht fließen. Nach ein paar Minuten ist alles wieder in Ordnung, und ich gehe hinaus ohne ein Wort, aber er weiß, daß ich dankbar bin.

Ein andermal frage ich ihn, woher er eigentlich kommt, wie es kommt, daß er so anders ist, so besonders, so hilfreich  . . .

“In den dreißiger Jahren bin ich nach Siam oder Thailand gegangen, als ich es hier bei den Nazis nicht mehr aushielt. Erst war ich da Lehrer an einer deutschen Schule, dann bin ich in ein buddhistisches Kloster gegangen. So bin ich, wie man so sagt, Buddhist geworden. Und so ist es gekommen, daß ich diese andere Einstellung zu Erziehung Jugendlicher habe. Frau Grabow habe ich auf einem Buddhistenkongress in Ceylon kennen gelernt, und als ich an diese Schule berufen wurde, habe ich sie eingeladen, Hochfels zu leiten, und sie kam. Sie ist auch Buddhistin wie ich.”

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Schwere Wochen in der Schlosserei

Was ist nun eine Schlosserei? Jedenfalls etwas ganz anderes als Herrn Mihme´s Werkstatt. In dieser großen Schlosserei werden Metallgegenstände gemacht und repariert, eben Schlösser und vieles andere. Es wird geschmiedet, geschweißt und gelötet, gefeilt und geschraubt und noch ungeheuer viel anderes. Unser Meister ist klein und alt, hat einen kleinen Schnurrbart und heißt Herr Blöße. Herr Blöße hält immer ein wenig Abstand von allen, er ist einerseits streng, doch auch lieb, so lerne ich ihn kennen. Er trägt bei der Arbeit einen blauen Werkanzug und eine kleine Schirmmütze mit einem ganz kurzen Schirm, wir alle tragen so einen Anzug.

In der Werkstatt ist es meistens laut von den Maschinen, die fast immer summen und schnurren, auch von dem Singen und Arbeiten der Männer, die da arbeiten, außer dem Meister sind wir neun: vier Gesellen, zwei Hilfsarbeiter, zwei Lehrlinge und ich als Praktikant. Als erstes bekomme ich einen blauen Arbeitsanzug, aber natürlich ist meiner kleiner als bei den anderen. Ich soll ihn nicht zu schnell dreckig machen. Denn dreckig ist es hier: es ist fettig und ölig, und alles ist voller Metallspäne. Da hilft das tägliche Ausfegen nicht viel, und selbst wenn wir am Sonnabend richtig sauber gemacht haben, reicht das nicht. So sauber wie bei Herrn Mihme wird es hier nie. “Ihr seid nicht zum Saubermachen hier sondern zum Arbeiten,” sagt Herr Blöße mal.

Ich werde einem alten Gesellen zugeteilt, Heinrich Lücke heißt er. Herr Blöße und er waren Soldaten im ersten Weltkrieg, aber diesmal durften sie zuhause bleiben, sie waren zu alt, und auch in der Heimat gab es viel zu tun. Wir sagen alle Sie zueinander — nur die Lehrlinge werden geduzt und duzen sich gegenseitig, ich auch. Die beiden sind wohl 15 etwa, etwas älter als ich, ihre Stimmen sind schon recht tief, nur ich habe noch eine so hohe Stimme, daß ich den Maschinenlärm leichter durchdringen kann als die anderen. Das ist manchmal gut, wenn schnell etwas durch die Halle gerufen werden muß. Dann kriege ich den Auftrag, laut zu rufen “abstellen”, “anstellen”, “halt” oder sonst was.

Herr Lücke war früher Seemann und im Krieg bei der Marine, so singt er immer noch “Auf Matrosen, ohé ...” und er rollt mit der Stimme wie die rollende See. Übrigens fällt mir dabei ein: hier werde ich nicht Rolli genannt sondern ganz normal Rudolf, das passt besser. Herr Lücke ist ein wenig herbe und furzt oft laut und genüßlich und lacht mich dann an. Der Meister mag das nicht so gerne, er ist feiner.

Einer der beiden Hilfsarbeiter ist Russe, er war Kriegsgefangener und wollte nach dem Krieg nicht zurück, wir nennen ihn Iwan, doch eigentlich heißt er anders, ich habe vergessen, wie. Und der andere ist ein großer freundlicher Neger, der mit den französischen Soldaten nach Deutschland gekommen ist und nach der Entlassung auch hier blieb. Was die beiden in Deutschland so schön finden, weiß ich nicht. Beide sprechen nicht viel Deutsch, es scheint, sie haben überhaupt nicht viel Lust zu sprechen. Aber Iwan raucht Unmengen von selbst gedrehten Zigaretten.

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Ein Lehrer aus Waldfels hat mich auf langer Bahnfahrt hierher begleitet. Es war mir ziemlich unheimlich am Anfang, eine so ganz andere Umgebung, diese anderen Leute in ihrer dreckigen Arbeit und mit ihren groben Worten. Auch für dieses Praktikum hat mir Herr Kunze ein Tagebuch mitgegeben, das ich aber nie mit in die Werkstatt nehme, nur auf meiner Bude behalte und nutze. Was ist nun meine Bude? In einem kleinen Altstadthaus mietete ich mir auf Herrn Blöße´s  Anraten eine kleine Kammer oben unter dem Dach, in der es zieht, und wo Mäuse kommen, um mir mein Brot wegzunehmen, und wo die Spatzen neben meinem Bett auf dem Dach rumkrakeelen, und es ist staubig und voller Spinnenweben — alles ganz anders als in den Schulen oder zuhause. Morgens bekomme ich in der Küche von Frau Meier, der das Häuschen gehört, ein kleines Frühstück mit Marmeladenbrot und heißer Milch und einen Apfel. Und sie schmiert mir einige dicke Stullen mit Schmalz oder Wurst für den Tag, die sie in Zeitungspapier einwickelt, zusammen mit ein paar Salatblättern. Etwas Obst ist auch dabei. Das alles für nur 5 Mark im Monat.

An den ersten Tagen war mir ziemlich elend, ich fühlte mich sehr allein und habe auch geweint vor Heimweh. Dann kam Frau Meier in meine Kammer und hat mich nach unten in die Küche geholt, wo wir abends etwas zusammen saßen — und sie erzählt, wie fast ihre ganze Familie vom Krieg aufgefressen wurde, wie sie sagt, ihr Mann blieb als Soldat in Russland, ihr zwei Söhne blieben als Marinesoldaten auf See ... Dennoch ist sie nicht immer traurig sondern lacht mit mir — oder besser für mich, denn ich mochte zuerst nicht lachen, es ist alles so traurig und kalt.

Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich so allein bin. Und in der Werkstatt ist es auch nicht leicht. Mit Iwan freunde ich mich etwas an, und er hilft mir, wenn meine Kräfte nicht reichen. Na ja, Herr Lücke hilft natürlich auch, denn ich gehöre ja zu ihm. Zuerst kommt wieder dieses Feilen an einem unförmigen Eisenklotz, “mach einen schönen würfelförmigen Klotz daraus, Rudolf,” sagt Herr Blöße am ersten Tag zu mir. Ich bekomme ein paar Feilen hingelegt, doch sie scheinen stumpf zu sein. Herr Lücke freut sich, daß ich die Feilen richtig anfasse, und ich bin strolz, daß ich das schon gelernt habe, bei Herrn Mihme — oh, Herr Mihme, Hochfels, wie ich daran denke, kommen mir schon wieder die Tränen vor Wehmut. Und dann wische ich mir über das Gesicht und die anderen lachen, denn ich habe mir alles schwarz gewischt mit der Hand.

Sie lachen auch, weil ich weine, nur Iwan und Herr Lücke fragen was mit mir los ist, und schluchzend gestehe ich mein Heimweh. Iwan nimmt mich in seine Arme und hält mich ein wenig bis mir besser wird. Er meint, er hat auch viel Heimweh, doch in das Stalin-Land könne er nicht zurück, und er fährt sich mit dem Finger über seine Kehle, womit er sagen will, da werden sie ihn gleich töten. “Und hier bei euch Deutschen ist es auch ganz in Ordnung.”

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Den ganzen Tag feile ich an dem Klotz, und langsam bekommt er die Form, die er haben soll, doch ich bin nicht begeistert vom Ergebnis, es geht so langsam. Herr Lücke meint aber, “das geht dir ja sehr schnell von der Hand, wo hast du das denn schon alles her?” Das macht mich wieder ruhiger und ich feile weiter. Zögernd sage ich, “sind die Feilen vielleicht stumpf?” Herr Lücke prüft sie mit dem Finger und gibt mir ein paar bessere, “das sind die besten in meiner Schublade. Es gibt keine neuen, und der Feilenhauermeister ist noch nicht aus der Gefangenschaft zurück, und der eine Geselle in seiner Werkstatt ist überlastet.”

Meine Hände, die früher so fein und sauber waren, sind nun bis in alle Rillen mit Öl verschmiert, und obwohl ich sie mehrmals am Tag wasche — wir haben da eine Art Sand mit Seife drin, eine Paste — und abends eincreme: richtig rein und glatt werden sie nie, selbst am Sonntag nicht. Übrigens: bei der alten Frau Meier gibt es nur eine Waschgelegenheit: in der Küche ein Steinbecken mit kaltem Wasser, das warme Wasser machen wir uns auf dem Herd zurecht, der mit Stadtgas geheizt wird. Hier wäscht Frau Meier sich, und ich, und ihre Tochter auch, wenn sie zu Besuch ist, sie ist so etwa Mitte 20, und sie wird wohl nie einen Mann bekommen, denn so viele junge Männer ihres Alters sind ja im Krieg gestorben. — Hier wasche ich auch meine Wäsche, und das alles ist schon sehr, sehr viel anders als in Hochfels. Das sind die zwei Seiten meines eigenartigen Lebens. — Und ein kleines Klohäuschen ist auf dem Hof, und ich muß immer einen Eimer mit Wasser mitnehmen zum Spülen.

Wir reparieren auch Fahrräder, sehr viel. Und Herrn Blöße gelingt es immer wieder, Ersatzteile zu bekommen, oder manches machen wir auch selbst. Die Wirtschaft in Deutschland ist so schlecht dran, daß wir das meiste, was wir in der Werkstatt brauchen, nur nach langem Suchen kaufen können. Für mich ist das aber eine gute Gelegenheit, alle diese Feinheiten der Metallarbeit bis ins Einzelne kennenzulernen. Wie Herr Lücke sagt, sind meine Hände sehr geschickt in diesen Dingen. Oft gibt er mir eine Arbeit, für die ich ganz feine Feilen benötige, Schlüsselfeilen. Da hat Herr Blöße mal eine großen Satz bekommen, aus einer Uhren-Fabrik, die durch den Krieg zerstört war, aber ein Lager blieb erhalten und wurde für die Handwerksbetriebe geöffnet. So sind die Zeiten.

Mit den anderen Männern in der Werkstatt habe ich nicht viel Kontakt, da ich aber der kleinste bin, der jüngste und der am wenigsten weiß in diesem Fach, höre ich auch manchen Spott, und ich weiß nicht immer, ob der freundschaftlich ist oder herablassend oder gar böse. Manches macht mich ziemlich betrübt, und an manchem Abend gehe ich traurig und bedrückt in mein Zimmerchen. Es ist eine alte Sitte im Handwerk, daß der Jüngste allerlei Botendienste für die anderen tun muß, Bier holen, Ausfegen, die Arbeitskleidung zur Wäscherei bringen und abholen und alle solche Sachen. Gut, ich bin hier um diese Lebensart zu erfahren, nicht nur um das Handwerk zu lernen, doch mir sind das keine lieben Erfahrungen. Die beiden Lehrlinge sind froh, daß sie einen Jüngeren haben, dem sie unangenehme Aufgaben geben können, die sie vorher selbst erledigen mussten, wie Waschbecken und Klo reinigen.

Auch wird allerlei Scherz mit den Jungen getrieben, mit mir am meisten. So soll ich mal ein paar Straßen weiter in eine andere Werkstatt gehen und die große “Gummifeile” holen, oder den “Birnenhammer” oder so´n Unsinn. Manchmal falle ich drauf rein, manchmal merke ich den Scherz aber rechtzeitig und lache den Auftraggeber aus, und dann lachen wir alle, und es wird etwas fröhlicher.

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Während der Arbeit trage ich immer lange Hosen, um meine Beine zu schützen, aber auch, weil es einfach so ist. Doch in den freien Zeiten, am Sonntag und abends ziehe ich eine kurze Hose an, damit meine Beine wieder Luft bekommen, kurz und weit und luftig. Ich habe sie früher mal von einem älteren Jungen bekommen, für den sie Uniformhose beim Jungvolk war, sie hat viele Taschen und ist etwas graulich, sie ist sehr praktisch und angenehm. Und dann wieder ziehe ich meine Wanderkluft an, um meine Seele ein wenig zu heilen und zu wärmen, im Rock statt dieser graulichen Jungvolkhose.


nochmal in meiner Wanderkluft

Und dann gehe ich in die Umgebung, den Wald oder zwischen die Felder. Das ist dann etwas wie Heimat, besonders wenn ich diese Kluft anhabe, warme Gefühle  .  .  .  Dankbarkeit.

Und das ist zuerst fast meine einzige Freude — bis Frau Meier mir ein Fahrrad ihrer Söhne leiht, mit dem ich in der Gegend umherfahren kann — dafür bringe ich ihr dann Blumen mit oder mache ein paar Besorgungen, wenn ich noch nicht zu müde bin. Selbst an kalten Tagen — es ist ja Mai und nicht immer warm — ziehe ich in der Freizeit manchmal die kurze Hose an oder die Wanderkluft. Meine Beine sind eben das Empfindlichste an mir und leiden am ehesten — ich meine, sie sind am leichtesten traurig und mißgelaunt und würden sich über ein wenig Wärme und Liebe freuen. Doch ich brauche den Gegensatz zum Leben in der Werkstatt, deswegen immer die kurze Hose oder den Wanderrock.

Insgesamt also finde ich das Leben hier langweilig und grob und öde. Es fehlt viel Feines, was ich sonst bekam, in den Schulen und zuhause, es fehlt Farbe, wie man sagen könnte. Nach drei Wochen aber ändert sich etwas, wie ich nämlich abends die Werkstatt verlasse, kommt ein Mädchen, das etwas größer ist als ich, und springt lustig auf Herrn Blöße zu, den sie unterhakt und mitnimmt. Er ist ganz begeistert, dreht sich nochmal um und sagt uns voller Stolz, “das ist meine liebe Enkelin Hermine, sie war so lange verreist. Nun ist sie wieder hier und ich bin so froh,” und er sieht sehr glücklich aus, so wie ich ihn noch nie sah.

Hermine hat mich plötzlich verändert, scheint mir, nur dadurch, daß ich sie hier sah. Die beiden verschwinden schnell, aber nun holt sie ihren Opa jeden Abend ab, und am dritten Abend spricht sie mich an, und ich bin verlegen und gerührt, und bleibe ganz stumm. Doch sie sagt, “sieh mich mal an, in die Augen,” und dann, “möchtest du mitkommen und bei uns zu Abend essen? — nicht wahr, Opa, das geht doch?” Er brummt und meint, “eigentlich geht das nicht, Rudolf ist doch ein Praktikant. Doch weil sein Schulleiter, Herr Kunze, mein Freund ist, mag das wohl gehen — so komm mit.”

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Er wohnt mit seiner Frau in einem alten Mietshaus in einer kleinen Wohnung mit einem dicken Kachelofen, doch der ist nun kalt, und das Abendessen ist so einfach wie in Waldfels: Pellkartoffeln mit Quark und Schnittlauch drauf, und daneben liegt ein halber eingelegter Hering. “Manchmal lasse ich noch Speck aus und gieße das über die Kartoffeln, heute haben wir aber keinen Speck im Haus,” sagt Frau Blöße. Nachher nimmt Hermine mich auf einen Spaziergang. Erst sind wir still und wandeln durch den Wald mit all seinem Vogelgesinge, Kuckuke und Tauben rufen ihre Laute, und in den vielen kleinen Tümpeln quaken die Frösche. “Hier, dies ist mein Wald, hier habe ich als Kind oft gespielt, hatte mit einer Freundin eine Burg, wie wir sagten, vielleicht finden wir noch die Reste.” An einem versteckten Platz sind ein paar alte Stecken zusammen gebunden, “hier ist es ja noch, wie lange solche Sachen manchmal halten ...”

Wir setzen uns vor die Burg auf den Waldboden mit all den alten Blättern, und sie fragt mich, woher ich komme, und warum ich hier bei ihrem Opa in der Werkstatt bin. Ganz wenig erzähle ich davon, doch ich habe keine Lust zu langem Reden, und so sind wir wieder still — und legen unsere Hände ineinander bis Ameisen darüber klettern und es kitzelt. “Du hast ein schönes Gesicht,” sagt Hermine und streichelt leicht meine Wangen, “wie weich sie doch sind, wie bei einem Mädchen, schön. Du siehst wirklich ein wenig wie ein Mädchen aus, ich mag das! Ist dir das unrecht, daß ich sowas sage?”

“Nein, ich höre das gerne. Weißt du, ich war mal Mädchen, für ein halbes Jahr, und ich habe das sehr genossen. Mädchen sind das Wichtigste für mich, und manchmal habe ich den Wunsch, sie nachzuahmen, so wie sie zu sein.” Und ich erzähle ihr meine Geschichte aus Hochfels, und daß ich mich sehr dahin zurücksehne, und ich beginne fast wieder zu weinen vor Sehnsucht. Hermine merkt das und nimmt mich tröstend in die Arme, und nun darf ich endlich wieder einmal diese Freude genießen. “Hier bei all den Männern versuchen sie dir einzureden, daß du wie ein Mann sein sollst, aber warum denn? Laß sie reden, sei wie du bist, eben ein 14-jähriger Junge und mehr nicht, auch nicht weniger, einfach so wie du bist.” Ich bin dankbar, daß es auch hier eine gibt, die sowas sagt.

Ich sage stockend, denn wie kann ich wissen, was sie von meinen Gedanken hält: “so viel Liebe habe ich in mir, in meiner Seele. Ich LIEBE immer alles und alle, du, das ist manchmal sehr anstrengend, weil die Menschen das nicht verstehen und ich dann lieber ruhig bin. Wenn ich sage, ich liebe dich, dann meine ich das nicht wie üblich, sondern: du bist ein Teil dieses Ganzen, das ich liebe, alles ... auch die einzelnen Teile. SO sollst du verstehen, wenn ich sage, ich liebe dich, wenn auch ein sehr schöner Teil.” Hermine versteht das sehr wohl und wollte mir schon etwas ähnliches sagen.

So holt sie aus ihrer Tasche einen Zettel, auf den sie geschrieben hat, was sie mir nun vorliest: "... sie unterhielt sich mit mir über Hermann und über die Kindheit, über meine und ihre, über jene Jahre vor der Geschlechtsreife, in denen das jugendliche Liebesvermögen nicht nur beide Geschlechter, sondern alles und jedes umfasst, Sinnliches und Geistiges, und alles mit dem Liebeszauber und der märchenhaften Verwandlungsfähigkeit begabt, die nur Auserwählten und Dichtern auch noch in späteren Lebensaltern zuzeiten wiederkehrt.”

Ihre Mutti ist Lehrerin und hat diese Sätze in einem Roman von Hermann Hesse gefunden, “im Steppenwolf”, sagt Hermine. “Und weißt du, wer das sagt in dem Roman? Sie heißt Hermine — und meine Eltern haben mir meinen Namen nach diesem Mädchen gegeben, so verehren sie sie. Meine Mutti ist die Tochter von meinem Opa Blöße, deinem Meister. Du mußt meine Eltern mal kennen lernen, mein Vater ist Kraftfahrzeugmechaniker, weißt du, und er hat einen großen Betrieb, der zur Zeit wahnsinnig schnell wächst, und da sehe ich meinen Papi selten, leider, er ist ein so schöner Mann! — aber so arbeitsam.”

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Es ist nun nicht so, daß sich niemand weiteres um mich kümmert, nein, denn ich muß sowohl Herrn Kunze als auch meinen Eltern zweimal in der Woche einen kurzen Bericht schreiben. Und besonders Herrn Kunze schreibe ich fast alles, wie es mir ergeht, auch das Traurige, auch das Schöne mit Hermine, der Bericht ist also meistens lang. Er schreibt mir denn auch, daß er sich schnell im Steppenwolf — er hat alle Bücher von Hermann Hesse — die Stelle rausgesucht hat und mir gratuliert, daß ich eine so verständige Freundin gefunden hätte. Hermines Mutter, Frau Marquardt, ist eine sehr feine Frau, und ich kann sie mir sehr gut als Lehrerin vorstellen. Ich bin wirklich glücklich, daß es hier diese Leute gibt und ich sie gefunden habe. Herrn Marquardt sehe ich selten und weiß nichts weiter über ihn außer daß er “arbeitet wie ein Roß” wie Hermine sagt.

Doch noch jemand kümmert sich um mich: die kleine Helga aus Hochfels schreibt mir ab und zu, und natürlich ich ihr auch. Neulich kam ein Brief, und da war auch eine Ansichtskarte drin von einer schönen Tanne im Schnee. Der Brief: “Lieber Rolli, mir scheint, es geht dir nicht gut da bei all den Männern. Ich würde gerne mal bei dir sein und dir etwas Weibliches geben, damit es dir besser geht. Hier ist alles wie immer — nein doch nicht: ich wachse, und mein Busen ist nun schon etwas größer und seine Spitzen (ich mag nicht Warzen schreiben, das ist so dämlich) bekommen mehr Farbe, ist das nicht etwas Wundervolles? Und ich trage nun richtige Perlons und so einen damenhaften (hi, hi) Strumpfhaltergürtel mit lauter Spitzen dran, wie alle, habe mich breitschlagen lassen, weil es hier `so Sitte´ ist.” Und nachdem ich ihr über Hermine geschrieben habe: “Das finde ich sehr schön, daß du ein so schönes und warmes Mädchen kennen gelernt hast, ich freue mich für dich — obwohl ich dich auch weiter liebe, darf ich doch? Und ich hoffe, daß du nun keinen Rock mehr anhast, denn nun bist du bestimmt schon ziemlich großer Junge, da passt das nicht mehr. Und vielleicht hast du schon eine tiefe Männerstimme ...” — habe ich noch nicht, und so ist es auch schön. Und mit der Wanderkluft trage ich doch meinen Rock und will auch dabei bleiben – das ganze Leben.

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Es gibt aber auch “warme” Tage in der Werkstatt, wenn alle fröhlich sind und in ihrer Sprache Rücksicht nehmen auf mich. Denn ich habe es ziemlich klar gemacht, daß ich das grobe Sprechen nicht gerne mag, und das haben die anderen angenommen, jedenfalls an Tagen, wenn es ihnen gut geht. Doch einmal hat mich einer von den Gesellen so in Wut gebracht mit ein paar sehr blöden Bemerkungen, daß ich an zu schreien fange und ihn heftig beschimpfe, ihn unter laufenden Tränen anschreie und mit geballten Fäusten auf ihn losgegangen wäre, wenn ich nicht so viel kleiner wäre. Erst lacht er mich aus mit Worten wie “Heulsuse” und so, doch als ich ihm dann sage, “Sie können ja gar nicht weinen, und wenn Sie weinen könnten wie ich, dann würden Sie die Qualen, die Ihnen der Krieg gemacht hast, endlich mal wieder loswerden und sich nicht nächtelang mit Alpträumen rumquälen müssen.” Das hat ihn sehr ernst werden lassen, und am nächsten Tag hat er mich um Entschuldigung gebeten und sich bedankt, daß ich ihm einen neuen Weg gezeigt hätte und so weiter, und wir haben uns schließlich unter Tränen umarmt, der Große mich Kleinen!

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Das war an einem Freitag und Samstag, wir arbeiten ja am Samstag bis mittags, wie alle, auch die Schulen übrigens. Immer noch war ich sehr erregt von dieser Sache, und als ich später mit Hermine in den Wald ging, erzähle ich ihr das Ganze und werfe mich schließlich schluchzend an ihre Brust, und sie streichelt mich und lässt mich heulen bis alles vorbei ist und ich vom Heulen sofort ins Lachen übergehe und lache wie noch nie. Und wirklich, nun ist alles vorbei. Wir suchen einen sonnigen Platz am Waldrand und legen uns hin zum “Braunwerden”. Erst schlafe ich mal ein und wie ich aufwache, ziehe ich mein Hemd aus und lasse die Sonne an Brust und Rücken, und dann streichelt und massiert Hermine mir den Nacken.

Und nun knöpfen wir gemeinsam meine Strümpfe los und rollen sie runter, und sie streichelt meine Beine und sagt, “du hast wirklich schöne Beine, `schwarz-braun wie die Haselnuß´ in dem Lied. Wie machst du das? Ich bekomme nie so braune Beine,” und sie zieht ihren Rock hoch und lässt die Sonne auch an ihre Beine. Dann geht sie mit den Fingerspitzen ganz leicht an meinen Beinen entlang und streicht an der Innenseite der Oberschenkel bis an den Rand der Hose, und das ist etwas besonders Schönes und Genußreiches, ein himmlisches Gefühl. So sind diese Tage in der Stadt der Metallwerkstatt! Gerade in diesem Moment bin ich sehr dankbar.

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Nach drei Monaten ist das Praktikum zuende und ich reise zurück nach Waldfels. Dieses Mal reise ich allein, das habe ich mir so gewünscht — irgendwann muß ich das doch können. Und nach vielem Umsteigen und Warten auf öden Bahnhöfen komme ich schließlich an, und Herr Kunze holt mich vom Bahnhof ab, es ist ein sehr herzliches Wiedersehen. “Hallo Rolli, du bist gewachsen, weißt du das?” Er nimmt mir meinen Koffer ab, und das wundert mich sehr, “einem so weit Gereisten darf ich doch wohl den Koffer abnehmen, das ist doch was Besonderes! Für mich ist es eine Ehre, dir heute den Koffer abzunehmen.” “Ach, Sie sind doch viel weiter gereist.” Natürlich weiß ich, daß seine Reisen nach Asien etwas ganz anderes waren. — Ich bin froh, denn ich habe nun viel überstanden und kann mich wieder meinen normalen Dingen widmen und lernen. So weit habe ich nun meine Berichte über die Absonderlichkeiten meines Lebens als Gymnasiast abgeschlossen. Unten werdet Ihr zur Orientierung noch die Namen der genannten Personen finden.

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Jahre später, nach dem Abitur, beginne und beende ich tatsächlich eine Schlosserlehre, um danach noch einen anderen Beruf zu lernen. Das Handwerk hilft mir sehr im ganzen Leben, ich bin Herrn Blöße und Herrn Lücke sehr dankbar für ihre Hingabe an meine Arbeiten und die Lebenslehren bei ihnen. Und besonders den Mädchen auf meinem Weg verdanke ich meine Offenheit für die Seele der Frauen, na, für die Seele der Männer auch, doch das ist noch etwas anderes — doch kennen habe ich die Mädchen und Frauen nicht gelernt, das geht wohl nicht, wie uns Herr Kunze vor Jahren mal sagte.

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Personen in der Geschichte


Personen in Hochfels:
Leiterin: Frau Grabow (Buddhistin, Menschenkunde, Biologie),
Erzieher/innen: Fräulein Päckelmann (Handarbeit, Basteln), Herr Mihme (Schlosserei), Frau Mecklin (Musik), Fräulein Mansfeld (Biologie, Erdkunde), Frau Deepen (Sport), Frau Kopischke (Gärten) und noch zwei Gärtnerinnen,
Stamm-Mutter: Fräulein Mansfeld, Mädchen in ihrem Stamm: kleine Helga, Henriette, Katrin, Marianne, Rollia (also ich), Martina, Federike, Petra, Carla und ihr Hund Frieda. Da ist noch der Zwillingsbruder von Kleiner Helga, der aber in Waldfels zur Schule geht,
andere Mädchen: Bärbel + Clara, Katharina, Große Helga, Clarissa, Berta, Leonore (Rollstuhl), Regina (Naturschutz-Gilde), Monika
in Rollia´s Klasse: Lisa, Kleine Helga.


Personen in Waldfels:

Leiter und Oberleiter: Herr Kunze (Buddhist),
Erzieher/innen: Herr Mirkin, Fräulein Groth,
Schüler: Franz, Peter, Rolli (alle drei gehen zur selben Zeit nach Hochfels, Rolli heißt eigentlich Rudolf, in Hochfels aber Rollia).


Personen in der Metallwerkstatt:

Herr Blöße, der Meister,
Heinrich Lücke, mein Lehrgeselle,
drei weitere Gesellen,
Iwan, der russische Gehilfe,
ein weiterer Gehilfe aus Frankreich,
zwei Lehrlinge.


und sonst in der Stadt der Metallwerkstatt:
Frau Meier, meine Vermieterin,
Frau Marquardt, Herrn Blöße´s Tochter,
Hermine, Frau Marquardt´s Tochter,
Herr Marquardt, der Vater von Hermine.