Dienstag, 10. Juli 2012

Fortsetzung


Des jungen Gymnasiasten Rudolf's

 Leben mit den Mädchen

und dann als Schlosserei-

Praktikant


Zweiter Post: Fortsetzung des ersten Posts "Jugend 1949 ..."

den Anfang könnt Ihr hier lesen: http://rudolf-bei-den-maedchen.blogspot.de/2012/06/rolli-ein-den-madchen.html .


Eines Abends, wie ich mit hochgezogenen Knien auf meinem Bett sitze und lese, wird leise die Tür aufgemacht, und die kleine Helga — es gibt hier auch eine große Helga — schleicht herein, den Finger auf dem Mund. Sie hat ein langes weißes Nachthemd aus einem kräftig aussehenden Stoff an. “Darf ich?” und setzt sich auf meine Bettkante. “n . . . , ja, aber ich habe mich noch nicht ganz ausgezogen,” denn ich habe zwar schon mein Nachthemd an aber die Strümpfe nur etwas runter gezogen, mir wurden die Knie zu warm.

Helga zieht ihre Beine unter das Hemd und sitzt nun im Schneidersitz, lehnt sich an meine aufgerollte Decke. Ich lese noch etwas, eigentlich lerne ich englische Vokabeln. So weit wie ich sie schon kenne, mag ich diese Sprache — na ja, es ist die einzige Fremdsprache, von der ich überhaupt was weiß. Doch nun kann ich mich nicht mehr konzentrieren und sehe Helga an. Meine erste Nacht hier auf Hochfels habe ich ja in ihrem Zelt geschlafen, wir beide dicht an dicht — wie sie es von zuhause kennt. Helga hat mich — wie soll ich das ausdrücken? —, sie hat mir gezeigt, wie gut es ist, zu kuscheln und nebeneinander zu schlafen. “Diese Nacht möchte ich wieder neben dir schlafen, darf ich? Aber erst reden wir noch miteinander, ja?”

“Wie alt bist du?” fragt sie nochmal. Ich sage, Mitte Dezember werde ich dreizehn. “Da bist du ja einen Monat jünger als ich.” Wir rechnen nach und sehen, es sind nur zwei Wochen. “Oh, so ´ne alte Frau,” sage ich lachend. Sie lächelt nur, “ich kann es nicht erwarten wirklich älter zu werden. Irgendwie ändert sich so wenig an mir. Ich bin noch so kindhaft, dumm und klein. Mein Zwillingsbruder ist schon so viel größer,” sie zeigt eine Handspanne zwischen Daumen und Zeigefinger. “Und du? fühlst du dich auch so wie ich?”

“Nein, gerade in den letzten Wochen habe ich gelernt, so zu sein wie ich gerade bin, nicht jünger, nicht älter, nicht dümmer, nicht gebildeter. Irgendwie bin ich auch noch ziemlich Kind und klein, aber bei Jungen soll es ja angeblich länger dauern. — Was sind das eigentlich für Felsen da unten, wenn ich aus meinem Fenster sehe? Da möchte ich mal rauf klettern.”

“Die nennen wir die Falkenfelsen, da brüten Wanderfalken. Die können wir mal ansehen, von weitem, aber hochklettern dürfen wir nicht, sie sind so scheu und verlassen dann ihre Jungen. Ein Zaun ist um den Felsen gezogen ... Weißt du, ich finde das wundervoll, daß sich Menschen um diese seltenen und schönen Tiere kümmern. Hast du mal gesehen, wie die Wanderfalken eine Ente fangen? Im Flug, von hinten und oben, und Enten auf der Flucht sind schon sehr schnell. Ich habe gehört, daß der Falke in dem Moment an die 200 Stundenkilometer schnell fliegt, mag das stimmen?” und sie macht mit zwei Händen vor, wie die Ente fliegt und der Falke hinterher und sie von oben tötet, mit dem nach unten ausgestreckten Daumen reißt sie der Ente den Rücken auf. “Mein Daumen stellt die Kralle des Falken dar. Die Ente ist sofort tot und fällt zu Boden und der Falke kreist hinunter und frißt sie — oder bringt sie seinen Kindern.”

Helga fragt, “schläfst du etwa in Strümpfen, ich nie, höchstens im Winter, wenn es kalt ist.” Sie zieht ihre Strümpfe aus und schiebt ihr Nachthemd ganz hoch um das Leibchen loszuknöpfen, “komm hilf mir mal, mach mal hinten die Knöpfe auf.” Am Leibchen hat sie die langen Strumpfbänder. “Eigentlich bin ich zu alt für so ein Kleinkind-Leibchen, aber ich mag Leibchen lieber als die engen Gürtel um die Hüften.” Sie dreht sich um und zeigt mir ihre kleinen Brüste, “sag mal, etwas wachsen die doch schon, oder?”

Das mit den Felsen ist noch nicht alles beantwortet: “Gibt es denn keine anderen Felsen, auf die wir klettern können?” “Doch, hinter dem Falkenfelsen ist einer, den wir gut erklettern können, willst du mal? Am Sonnntag werden wir dahin gehen und dann ... du wirst schon sehen. —

“Zieh dich auch mal weiter aus, so geht das doch nicht, du schwitzt ja im Bett.” Ich ziehe mein Nachhemd aus, das Miederchen, die Höschen und den Strumpfhaltergürtel auch und bin nun ganz nackt — “magst du mich so sehen?” frage ich. “Ja, aber das Hemd mußt du nun wieder anziehen, so ganz nackt, ich weiß nicht, lieber habe ich dich neben mir mit etwas auf dem Leib.” Helga sinnt ein wenig und sagt, “doch eigentlich mag ich Nacktheit, das habe ich wohl von meiner Mutter, zuhause laufen wir oft ganz nackt rum, wenn es nicht zu kalt ist. Mein Onkel Oskar weniger, der schämt sich, glaube ich, vielleicht weil sein Penis so lang ist, er hängt immer sein Tuch um die Hüften, einen Wickelrock, Lungi nennt er ihn.” “Ja, da haben Frauen es besser, da hängt nicht so was rum, was einem Angst machen müsste.” “Also, Angst habe ich vor einem Penis nicht, schließlich habe ich einen Bruder. Und sein Penis ist auch nicht gerade klein, eher groß.”

Helga meint, ich soll mich auf den Rücken legen. Sie sitzt neben mir und streicht mit einer Hand leicht über meinen Bauch. Das berührt mein Innerstes so sehr und zart, daß es in mir an zu zittern anfängt. So was habe ich noch nie erlebt. Sie schiebt mein Nachthemd hoch und betrachtet meine Nacktheit. Leise berührt sie meinen Penis und meine Schenkel und meine Hoden, ganz weich und liebevoll, “wie schön, du hast gar keine Haare. Mein Bruder hat schon welche.” “Ich bin froh, daß es so ist, doch die ersten drei habe ich schon gesehen. Und du?” Helga zieht ihr Hemd hoch und zeigt mir, wie nackt auch sie ist. “So sind wir noch richtig Kinder, oder? Ist es DAS? Das müssen wir noch genießen, so lange es so ist.”

Und so reden wir noch eine Weile, ziehen unsere Nachthemden richtig an und legen uns unter die Decke. Der Mond scheint ins Fenster, und wir sehen uns noch lange einfach an. Die Helga hat ein so süßes Gesicht, ich kann die Augen nicht zumachen. In der Nacht wache ich ein paar mal auf und sehe sie wieder an, wie sie schläft. Wir legen unsere Beine dicht aneinander. Ich kann gar nicht richtig schlafen, am Morgen wird mir der Schlaf fehlen.

Doch den ganzen Tag war ich frisch und munter, und eine Englischarbeit habe ich mit viel Leichtigkeit und Aufmerksamkeit geschrieben. Hinterher denke ich, ich müsste vor jeder Arbeit zusammen mit Helga die Nacht verbringen.

Das Aufstehen in den beiden Schulheimen geht so: es läuft eine Schülerin (beziehungsweise ein Schüler in Waldfels) durch die Flure und singt einen kurzen Wach-auf-Vers eigener Wahl, vielleicht aus einer Oper oder einem Volkslied oder selbst erdacht. Fünf Minuten später läutet die elektrische Glocke und alle gehen im Turnzeug in den Hof, wo wir einen Morgensport machen, immer zu derselben Schallplatte und unter Anleitung einer Schülerin. Dann eineinhalb Stunde bis zum Frühstück.

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Helga sagte doch, “eigentlich bin ich zu alt für so ein Kleinkind-Leibchen, aber ich mag Leibchen lieber als die engen Gürtel um die Hüften.” Das finde ich nun wirklich zu kindhaft und versuche sie zu überreden, wenigstens ein Mal als Versuch einen Strumpfhaltergürtel anzuziehen wie ich und die meisten anderen Mädchen – so weit ich weiß – tragen. Sie stimmt zu und holt aus dem Schrank einen, der ihr gehört, doch den sie noch nie benutzt hat. Unter der Bedingung, daß ich dabei bin und ihr helfe. So wurde es dann, und die folgende Zeichnung zeigt, was geschah:


Sehr damenhaft, und Helga ist deswegen recht verlegen. Und kehrt erstmal wieder zurück zu ihrem Leibchen, das sie vorne knöpft.

Helga bittet mich, ihr zu helfen, versuchsweise den
Strumpfhaltergürtel anzuprobieren,
 den rechten Strumpf  habe ich schon angeklammert

So sieht die Klammer am Ende des Strumpfhalters aus - 
von Nahem gesehen


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Zum Turn-Unterricht haben die Mädchen eigenartige schwarze Turnhosen an: ich nenne sie Ballonhosen, denn sie sehen beulig aus als ob die Trägerin lauter Luftballons darunter hat, am Hosenbein ist nämlich ein Gummi. Ich habe auch so eine. Wenn wir uns umziehen, ziehen wir die Perlons aus, denn sie könnten kaputt gehen. Beim Sport in der Halle sind fast alle barfuß. Hinterher dauert das Anziehen recht lange, weil sich alle helfen müssen, daß an den Strümpfen die Naht wieder gerade sitzt. Deswegen sind die Turnstunden auch zehn Minuten länger als andere Stunden. Wenn wir draußen Sport machen, laufen wir oft barfuß, viele haben auch Turnschuhe, ich nicht.

Mädchen und Sport: das ist ziemlich anders als bei den Jungen. Die Mädchen sind nicht so ehrgeizig, sie wollen nicht immer die beste sein. Der Sport ist mehr wie ein Tanzen: sie sind so elegant und gucken immer darauf, schöne Bewegungen zu machen. Jedenfalls achtet Frau Deepen, die den Sport in unserer Klasse leitet, sehr darauf.

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Biologie und Erdkunde mag ich besonders gern. Beides haben wir bei Fräulein Mansfeld, meiner Stamm-Mutter. Ich mag diese Fächer, weil wir immer wieder von der Natur hören, und auch weil wir lernen, sie zu beobachten. Da ich gerne in den Felsen und Wäldern umherstreife — meistens in meiner neuen Wanderkluft —, passt das gut. Und weil Fräulein Mansfeld am meisten vom wirklichen Leben berichtet.

Besonders mit Pflanzen beschäftigen wir uns, und die Klasse hat ein Herbarium angelegt, jede Schülerin hat eine eigene Pflanzenart, von der sie Beiträge an das Herbarium bringen soll. Und wir lernen auch, die Pflanzen zu zeichnen oder zu malen. Besonders Bärbel, die allerdings in einer höheren Klasse ist, hat da Wunderwerke geschaffen. Später werden wir uns auch kleine Pflanzen im Mikroskop ansehen, zum Beispiel die Algen aus den Tümpeln und dem See — leider werde ich dann wieder in Waldfels sein, aber da haben wir ja auch ein Mikroskop, mal sehen.

Und Fräulein Päckelmann gibt uns Lebenskunde. Da lernen wir — und üben es auch —, wie wir Menschen sind und miteinander umgehen. Viele Sachen, die ich hier schreibe, hätte ich ohne Fräulein Päckelmann´s Unterricht nicht so schreiben können. Zu Lebenskunde gehört auch, wie der Menschenkörper gemacht ist, also “Biologie der Menschen”, wie sie sagt. Da habe ich manchmal Angst, daß ich nach vorne gerufen werde und von mir als Junge berichten soll oder mich gar nackt zeigen soll (um alles zu zeigen, was einen Jungen ausmacht) — aber das hat sie nie gemacht, sie projiziert Bilder aus Büchern an die Leinwand.

Frau Grabow kommt gelegentlich dazu. Sie ist etwas zurückhaltend. “Alle Lebewesen sind doch unsere Brüder und Schwestern, jedenfalls sehe ich das so. Deswegen esse ich auch kein Fleisch — manchmal kann ich es nicht vermeiden. Doch dann bitte ich das Tier um Entschuldigung, also eigentlich bitte ich die Seele des Tieres.”

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Die Gärtnerinnen-Gilde: Zur Schule gehören viele Gärten, die zum Teil auf dem Berg liegen, auf dem auch die Burg ist, andere sind im Tal in den Dörfern. Nicht meine ganze Zeit hier auf Hochfels war ich bei Herrn Mihme. Ich sollte auch noch in ein paar der anderen Gilden arbeiten, ich entschloss mich erstmal für die Gärtnerei, weil so schönes Wetter ist. Drei Frauen machen die Gärtnerei, am Ende des Krieges waren sie aus Ostpreußen geflohen und hatten früher kleine Bauernhöfe mit ihren Männern, die nun nicht mehr leben, sind im Krieg geblieben. Drei Arten von Gärtnerei haben wir: ein paar größere Flächen für Nahrung, also Kräuter, Gemüse, Obst und so, diese Flächen sind im Tal, und ich bin da nie gewesen. — Sie haben ein Pferd zum Pflügen und Wagenziehen. Mit diesem Pferd fahren wir manchmal aus, denn die Schule hat auch eine Art Kutsche, sehr einfach allerdings, mehr ein Kastenwagen, in den eine Bank gestellt wird. Neun Mädchen passen da hinein, wenn eine der Frauen kutschiert und eine der Mädchen mit auf dem Kutscherbock sitzt. — Für kleine Mengen von Gemüsen gibt es ein paar Gärten nahe der Burg; und ein paar kleine Ziergärten haben wir, die rund um die Burg liegen, an der alten hohen Burgmauer. Hier sitzen wir oft auf den Bänken, die an die Mauer gelehnt stehen, umgeben von den Blumen. Wenn die Sonne scheint, wird diese Mauer aus alten Steinen warm, und abends, wenn wir da sitzen, strahlt sie die Wärme wieder aus und wärmt den Rücken.

Für zwei Wochen gehe ich in die Ziergärten zum Arbeiten. Da habe ich gelernt: alle Pflanzen müssen zusammenpassen, in den Farben, in der Zeit, in der sie blühen oder bunte Früchte tragen, in der Pflege, und wie sie sich gegenseitig mögen. Und am liebsten hätte es Frau Kopischke, daß der Boden nie nackt ist, immer bedeckt mit den Pflanzen, die wir da haben wollen — oder aber mit Kompost. Meistens schickt sie mich, das Unkraut rauszuholen, sie sagt nicht jäten. “Nimm ein Schäufelchen und stich die Pflanzen, die wir hier nicht haben wollen, mit den Wurzeln raus — besser du gräbst sie aus — schüttelst die Erde ab und legst die Pflanze auf den Komposthaufen, noch bevor sie Samen tragen. Dann bedeckst du die leere Stelle mit etwas gereiftem Kompost.” “Was heißt denn das, gereifter Kompost?” “Auf den Komposthaufen legen wir alle alten Pflanzenreste und lassen sie vermodern. Dann, vielleicht nach ein paar Monaten, sind sie reif, um verrottet wieder auf´s Beet zu kommen und Fruchtbarkeit zu erzeugen, das ist dann der reife Kompost. Aus ihnen wachsen dann die neuen Pflanzen.”

Wie ich mich mit dem Schäufelchen in der Hand hinhocke und eine Weile den Boden und die Pflanzen betrachte, die Spinnen, wie sie umherlaufen, die kleinen Kräuter, die ich rausholen soll ... kommt mir die Erde unter mir ganz nahe. Ich bin ihr sehr nahe. Ich tue nichts, sondern ich merke wie eine Wärme aus der Erde von unten in meinen Körper eindringt, es ist wunderschön. Damit ich das noch mehr spüre, schiebe ich Rock und Unterrock hoch, und nun ist es, als ob Feuer aus der Erde unten in meinen Körper kommt, Flammen, die aber nicht heiß sind. Nur noch die zarte Seide des rosa Höschens ist dazwischen. Still muß ich sitzen bleiben, denn dieses ist sehr fein, aber auch stark. Ich mache die Augen zu und sehe ein Bild, wie dunkelrote Kristalle unter mir in der Erde sind. Von ihnen geht eine Art Seil oder Schlauch oder sowas von unten in meinen Körper und leitet ein Gefühl von Erde, von Sicherheit in meinen Unterleib. Ich glaube, wäre ich tatsächlich eine Frau, würde ich jetzt das Gefühl bekommen, daß die Erde hilft, daß ein Kind in meinem Leib wachsen kann — so nahe wie nun der Unterleib der Erde ist.

Die Gemüsebeete aber werden mit einer Hacke bearbeitet, im Stehen, um das Unkraut schnell abzuhacken und den Boden etwas zu lockern. Doch in den Ziergärten sollen wir mit jeder einzelnen Pflanze umgehen, sie ansehen und beurteilen, ob sie raus soll oder hier bleiben — denn auch sogenannte Unkräuter können schön sein und sollen für eine Weile stehen bleiben, damit wir sie kennen lernen. Henriette sagt, “so kannst du bestimmen, wie diese Lebensgemeinschaft im Ziergarten zusammengesetzt sein soll, welche Pflanzen da sein sollen und welche nicht.” 

Zum Arbeiten in den Gärten hat mir Henriette für meine Zeit auf Hochfels einen weiten, grünen und derben Träger-Rock geliehen, sie sagt, “Gärtnerinnen müssen grün gekleidet sein.” Henriette ist schon dem Abitur nahe und will Gartenarchitektin oder Landschaftsarchitektin werden. Pflanzen und wie wir damit umgehen können, um die Natur schön zu machen, wo wir Menschen sie vorher häßlich gemacht haben, das sind ihre Interessen. Sie sagt, “du mußt immer darauf achten, wie die Pflanzen zusammenpassen. Da gibt es in Potsdam einen Gärtner, Karl Foerster, der hat einen großen Pflanzenhandel und einen großen wunderschönen Garten, in dem er zeigt, wie wir Gärten anlegen können. Da will ich mal ein Praktikum machen und von ihm lernen bevor ich mit dem Studium anfange. Ob das gehen wird, weiß ich nicht, vielleicht haben die Kriegszeiten auch da alles schwierig gemacht, wahrscheinlich wurden da nur Kartoffeln angebaut, wie das so war. Hoffentlich läuft das nun wieder so wie früher.”

Henriette zeigt mir ein Buch, auf dem steht der Titel Vom Blüten-Garten der Zukunft. “Es ist von Karl Foerster geschrieben,” sagt sie, “schon 1917, mitten im ersten Weltkrieg. Ich lese dir mal vor, was er im Vorwort geschrieben hat: `Die Erdenzukunft ... wird ein Paradies der Naturbemeisterung und der Naturhingabe werden.´ Ist das nicht schön? Daran will ich mitarbeiten, das sind meine Ideen für mein Leben.” Ich nehme das Buch, blättere darin. “Es ist wohl ein kostbares Buch?” “Ja, sehr. Sieh mal hinten sind ein paar Fotos von seinem Garten in Bornim, das liegt bei Potsdam. Ist der nicht schön? Herr Foerster ist nun 75, ich habe mal den Garten besucht und ihn gesehen — alt und würdig und schön dieser Mann.

“Er soll mal gesagt haben daß sein Garten ein `Wildnisgarten´ ist, daß er `Wildnisgartenkunst´ betreibt. Das finde ich klasse: ein Ziergarten muß so sein, daß er wie eine Wildnis ist, aber für Menschen begehbar. Frau Kopischke hat nun auch solche Ideen, seit ich ihr dieses Buch gezeigt habe. Sieh dir mal diese Bilder an. Ich habe auch ein Buch, aber zuhause, in dem ist Alpenwildnis fotografiert, ganz so wie Foerster sich das wünscht: alles bunt und voller Blumen, Alpenblumen.”
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Doch nun etwas anders: wie ist das mit der Wäsche, wer wäscht unsere Kleider? In Waldfels schicke ich die dreckige Wäsche alle 4 bis 6 Wochen in einem Koffer nach Hause und bekomme sie gewaschen zurück — wie alle das machen. Hier in Hochfels habe ich keine Lust dazu, die sollen zuhause nicht alle meine Mädchensachen sehen. Ich wasche alles selbst im Waschbecken in Bad hinter meinem Kämmerchen, denn eine Wäscherei haben sie hier nicht, dazu wäre eine große Waschmaschine nötig, und die gibt es hier nicht. — Das schönste dabei ist hinterher das Bügeln und Zusammenlegen der reinen Sachen. Am meisten Spaß machen einerseits dir Strümpfe, die ich natürlich nicht bügele, und auch die Kleider und Blusen, die ich bügele und in den Schrank hänge. Doch, die Strümpfe, die ich mir selbst geschneidert habe, mit all den bunten Flicken drauf, die muß ich bügeln. Hinterher liebe ich es, in den Schrank zu sehen, wie die Sachen da so ordentlich und schön hängen und nach den Lavendelblüten duften. Das hatte ich früher nicht, gehört wohl zu meinen Mädcheneigenschaften. Mal sehen, ob das bleibt, wenn ich nach Waldfels zurück gegangen bin.

Mit meinen langen Strümpfen habe ich besondere Erfahrungen: schon als kleines Kind habe ich gerne welche getragen, es gab nur welche aus weicher Baumwolle für uns Kinder, meistens in braun wie Erde oder Schokolade — leider nie bunte. Das besondere daran ist: in diesen Strümpfen fühlen sich meine Beine sicher und bewahrt. Besonders meine Knie, die ja so leicht verletzt werden, fühlen sich sicherer als wenn sie nackt sind oder in langen Hosen. Ich weiß nicht, wie das kommt, es ist einfach so. Irgendwann spritzte mir mal ein Schuß kochendes Wasser auf ein Knie und ich war sehr erschreckt. Das Knie war aber geschützt durch den Strumpf — so jedenfalls kam mir das vor, und ich war dem Strumpf sehr dankbar. Danach habe ich ihn geehrt, indem ich ihn an die Wand gehängt habe, aus Dankbarkeit, mit einem getrockneten Zweig einer Schlingpflanze drum rum. Meine ganze Kindheit schützten die Strümpfe meine Knie, doch wenn ich hinfiel, hatten die Strümpfe am Knie sofort ein Loch, und wenn das gestopft wurde, war da so eine Art Gittermuster auf dem Knie, witzig. Manchmal fragte ich meine Mutter, ob sie nicht in einer anderen Farbe stopfen könnte, rot oder rosa zum Beispiel, doch das wollte sie nicht. Noch immer trage ich gerne solche Strümpfe — außer wenn es zu heiß ist — lieber als diese Frauen-Perlons, die so empfindlich sind.

Einmal schickt mein Vater mir ein Paar neue Nylons, beige, blickdicht und mit einem grünen Zier-Ring ganz oben. “Für mein kleines Mädchen,” schreibt er dazu, doch ich weiß nicht, ob er das liebevoll oder ein wenig spöttisch meint. Diese Strümpfe sind so lang, daß sie wie die braunen Wollstrümpfe das ganze Bein bedecken, was ich gerne mag. Allerdings muß ich sie oben zusammenschieben, damit die Strumpfhalter sie fassen können.

Und dazu hatte mir eine Tante ein paar Wollsöckchen gestrickt, in hellgrünen und beigen Farbtönen, gut passend zu den Nylons.

Wie ich das erste Mal eine Laufmasche im Perlon-Strumpf habe, bin ich sehr erschrocken — ist der Strumpf nun endgültig kaputt? Es war gerade im Unterricht und ich zeige Lisa den Schaden. Sie lächelt und holte aus ihrem Handtäschchen eine kleine Tube UHU. “Faß mit der Hand unter den Strumpf, damit er vom Bein abgehoben ist, und ich tropfe etwas UHU drauf und dann laß es antrocknen, dann ist der Strumpf erstmal gerettet.” Sie sieht zu, macht die spitze UHU-Tube auf und legt einen kleinen Tropfen um das Loch, ich bekomme ein warmes Gefühl, so etwas mit einem anderen Mädchen zusammen zu machen. “Es ist gut, immer so eine kleine Tube dabei zu haben, ebenso wie Ersatz-Strümpfe und Ersatz-Strumpfhalterknöpfchen.”

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Noch was zu Strümpfen. Meine Beine sind recht dünn – “das ist so in unserem Alter” sagt Helga. Und ich ziehe auch deswegen lange Strümpfe an, damit meine Beine etwas größer oder stärker oder breiter wirken. Da eignen sich braune am besten – allerdings wären geringelte noch besser, aber die gibt es ja nicht. Zum Beispiel braun-grau-schwarz geringelt! Und schön ist es, wenn unten noch dicke, wollene Socken sind, das unterstreicht die Wirkung noch. Mal sehen, vielleicht bekomme ich mal ein Bild davon, wie ich damit so aussehe. Auch zu kurzen Hosen trage ich sie gerne, doch das wäre hier in Hochfels ja nicht gerne gesehen. Also vertröste ich mich auf die Zeit danach.

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Ab und zu lädt Frau Grabow Leute ein, die uns etwas Besonderes zeigen, zum Beispiel einen Glasbläser, der seine Kunst vorführt, oder den Förster der Wälder rund um Hochfels, der uns über die Wälder berichtet. Und so kam mal ein Indianer. Er ist Soldat bei der amerikanischen Armee in Kaiserslautern und spricht gut deutsch. Frau Grabow hatte ihn mal im Zug kennen gelernt und ihn eingeladen. Mister Johnson hat heute keine Militär-Uniform an sondern eine beige Hose und ein schlichtes sehr weites Hemd. Um den Hals trägt er ein rosa Tuch. Er hat viele Bilder aus seinem Volk mitgebracht. Es sind auch alte Bilder dabei, die die uralte Kleidung der Indianer zeigen, aus Leder und bunt. Besonders interessieren mich die Leggins, die die Männer um die Beine tragen, oder besser trugen, da sich heute alles verändert hat. Sie sollen die Beine beim Reiten oder Laufen im Wald schützen, ähnlich wie unsere Hosenbeine. Sie werden mit einer Lederschnur am Gürtel befestigt. Ich denke, solche Leggins muß ich mir mal machen, um in kurzem Rock — oder später in kurzer Hose — im Wald laufen zu können, wo doch meine Knie so schutzbedürftig sind. Zum Schutz sind sie bestimmt besser als die Strümpfe. Herr Johnson macht seinen Koffer auf und zeigt mir ein paar Lederleggins, die ich immer wieder anfassen und angucken muß. “Wer hat die denn schon alles angehabt?” An der Seite sind ein paar bunte Lederstücke angenäht.

Leder kann ich nicht bekommen, aber aus einem braunen Stoff nähe ich mir Leggins, doch ich traue mich nicht, sie unter einem Rock zu tragen, vielleicht später mal. Nun liegen sie erstmal im Schrank, und wenn mich die Sehnsucht in die Ferne packt, gehe ich hin und streichele sie liebevoll.

Doch auch Besuch aus Osteuropa bekamen wir: einmal kam eine eigenartige Schulklasse mit etwa fünfzehn 11-jährigen Jungen. Was uns sehr erstaunte, war nicht, daß sie fast alle lange Strümpfe trugen, sondern daß ihre Strümpfe alle zu kurz waren,denn aus den sehr kurzen Hosen sahen die Strumpfhalter raus, und ein Stück Schenkel-Haut war nackt. Die Strümpfe bedeckten gerade eben ihre Knie. Das kam uns sehr un-angezogen und komisch vor, aber wir hörten, daß das in den Ländern der Sowjetunion gerade Mode war bei den Kindern. Sollte wohl besonders niedlich aussehen, schätzten wir.


 Die Jungen aus Osteuropa, nach dem Gedächtnis gezeichnet


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Die Sonntage sind anders als die restlichen Tage der Woche: am Sonntag ist keinerlei Unterricht oder so was. Aber es gibt auch kein Mittagessen. Viele bleiben lange im Bett  und genießen das Leben. Heute stehe ich um halb neun auf und gehe im langen Nachthemd — wie die meisten — in den Ess- Saal. Dort steht wie immer am Sonntag ein großes Frühstück auf einem Tisch, heute ohne Porridge! Warm gehaltene Milch und Kräutertees können wir uns nehmen, für die Erwachsenen steht da auch Kaffee, aber nicht viel, denn er ist teuer. Auch Brötchen, Schwarzbrot, Kuchen (für jede nur ein Stück), Marmelade und alles was sonst noch dazu gehört, steht da. Das alles wird von der Frühstücks-Gilde gemacht und ab drei Uhr wieder abgeräumt. An jedem Sonntag ist eine andere Gruppe von fünf Mädchen dran, doch nur am Sonntag arbeitet diese Gilde, alltags macht das die normale Küche.

Die Frühstücks-Gilde hat die Aufgabe, das Sonntags-Frühstück zu einem besonderen Ereignis, zu einem Fest zu machen. Blumen werden aufgestellt, schöne klassische Musik wird aufgelegt — manchmal spielt die Musik-Gilde etwas —, und die Gilde bedient mit viel Fröhlichkeit und Eleganz. Und an jedem Sonntag macht die Gilde, die dran ist, etwas Besonderes, einmal werden auf Wunsch Spiegeleier gebraten, einen anderen Sonntag führt eine Gruppe ein kleines Theaterstück auf, mal tritt die Frühstücks-Gilde in Fantasiekleidern auf, mal berichtet ein Mädchen über ein wichtiges Erlebnis ihres Lebens oder stelllt ein Buch vor, und so weiter. Und deswegen kommen die meisten schon vor zehn Uhr herein, manchmal auch in Festkleidern — andere wie ich heute noch im weißen Nachthemd, nur ein buntes Tuch habe ich mir um den Hals gelegt.

Um das Nachthemd hatte ich mir mal einen Gürtel gelegt, das kommt mir ein wenig männlicher vor, ganz kann ich´s nicht lassen. Stelle mir ein Bild vor, das ich mal in einem Sagenbuch sah: Da stehe ich und habe noch ein Schwert am Gürtel, das mit viel Gold verziert ist. Um die Brust habe ich eine dicke Lederweste wie einen Burstpanzer — stelle ich mir alles vor. Dann handelt es sich natürlich nicht um ein Nachthemd sondern um ein mittelalterliches Ritterhemd oder so was.

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Die kleine Helga kommt zum Frühstück und sagt zu mir, “heute gehen wir zu den Felsen, ja?” Sie ist schon fertig angezogen in einem Kleid aus kräftigem Stoff, der auch mal einen Kratzer vertragen kann. Ich ziehe mir Henriettes grünen Rock an und die Wanderstrümpfe und wir gehen los. In einem Beutel haben wir etwas zu essen mitgenommen, noch vom Frühstück. Ja, und gute kräftige Schuhe haben wir auch an. Es wird bald warm und wir rollen die Strümpfe runter, nun sind wir nicht mehr im Burg-Gelände — ein witziges Gefühl ist es, wie die losen Strumpfhalter nun auf den Schenkeln baumeln. Erst beobachten wir die Wanderfalken. Lange müssen wir still warten, bis einer angestrichen kommt, wie Helga sagt. Die Kleinen schreien im Nest, aber sie sind von hier aus nicht zu sehen. Das Elterntier hat eine Beute im Schnabel, vielleicht eine Taube? Wir sehen noch wie der Falke in der Luft den Flug abbremst, doch dann verschwindet er hinter einer Felskante.

Helga meint, “wenn wir auf einen anderen Felsen klettern, können wir mehr sehen.” “Dürfen wir das denn, so nahe am Nest?” “Nein, wir nehmen einen etwas weiter weg.” Sie macht ihren Beutel auf und zeigt mir ein kleines Fernglas, “damit können wie alles sehen.” Wir müssen uns durch allerlei Gestrüpp schlagen, und ich bin froh, daß ich Henriettes Rock anhabe, dem sowas nichts ausmacht. Am Fuß des Felsens klettert Helga voran, “ich kenne den Weg schon.” Natürlich kann ich ab und zu unter ihren Rock sehen, und es ist wieder ein so warmes Gefühl, daß sie so frei zu mir ist. Später klettere ich voran und habe nun auch dieses Gefühl von frei-Sein, daß nun mein Rock nach unten offen ist, und Helga sieht gerne darunter, sie hat Spaß daran, wie sie sagt. Wir sind einander große und nahe Freundinnen.



Helga bei den Falkenfelsen – ihre Wander- und Kletter-Kluft,
wie üblich bei uns Mädchen der 1940er Jahre.

Oben ist eine kleine platte Fläche, wir setzen uns hin, und tatsächlich können wir nun das Nest — “Horst nennt man ein Falkennest” sagt sie — besser sehen, auch die Falkenkinder und die Eltern, wenn sie heran gebraust kommen, mit lautem Rauschen bremsen und auf dem Nestrand stehen. Die Jungen schreien gierig.

Auch sonst können wir viel von hier sehen. Die Sonne scheint warm, und ich ziehe meine Strümpfe ganz aus und tue sie in den Beutel, Helga auch. Ich kann nicht immer auf den Horst sehen, wenn nichts passiert, und so sehe ich meine Beine an und zeichne mit einem Finger Muster auf die Haut. Helga macht das nach und zeichnet auch auf meine Schenkel — doch wenn sie das macht, ist wieder dieses warme Gefühl da, und ich beginne das immer mehr zu genießen. “Siehst du, auch wenn du Mädchenkleider anhast, bleibst du ein Junge, und wenn dich ein Mädchen berührt, bist du ganz begeistert.”

Meine Beine sind braun obwohl ich diesen Sommer ja meistens Strümpfe anhabe. Das ist wohl meine Veranlagung, ich mag das, denn Käsebeine sind doch nicht so schön.

Wie wir später wieder zur Burg gehen, begegnet uns Fräulein Mansfeld und deutet auf unsere nackten Beine. “Nun müsst ihr aber wieder Strümpfe anziehen!” Das hatten wir ganz vergessen. Wir gehen in einen der Blumengärten, setzen uns auf eine Bank und ziehen unsere Strümpfe aus dem Beutel. Immer noch finde ich es eigenartig, wenn ich den Strumpf am Halter wieder befestige, es bleibt ein interessantes Gefühl. Ich glaube, dieses Gefühl ist sehr mädchenhaft — obwohl ich das früher ja nicht anders tat und daran gewöhnt sein müsste. Also wirklich, da ist allerlei Mädchenhaftes in mir, wahrscheinlich auch wenn ich nicht hierher gekommen wäre, aber nun sehe ich es noch mehr.

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Da ich ein wenig Querflöte spielen kann, darf ich auch mal die Musik-Gilde besuchen. Doch die guten Konzerte, die Mittwoch- und Sonntag-abends stattfinden, kann ich nicht mit gestalten. Nie in meinem Leben habe ich ein Instrument richtig spielen gelernt. Ich merke auch, die Mädchen sind die feineren Musiker, und das lasse ich ihnen gerne, denn ich höre ihnen mit Liebe zu. Im Lesesaal von Hochfels ist ein großer Teppich, auf den wir uns setzen, wir dürfen nur in Strümpfen hineingehen, so wertvoll ist der Teppich. Gegenüber sind ein paar Stühle und ein Klavier, und bald kommen feierlich die Musikerinnen, knicksen oder verbeugen sich vor uns — ganz nach eigener Wahl — und beginnen. Einer von den Jungen aus Waldfels ist manchmal auch dabei, er spielt Geige. Für mich ist auch ein Erlebnis, wie diese Mädchen sich bewegen, vorsichtig die Noten und das Instrument auf den Boden legen, wie sie den Rock beim Hinsetzen hinten glatt streifen und runterziehen, und nachher legen sie ihn auf den Knien zurecht — alles so elegant wie ich es wohl nie kann. Ja solche feinen Sachen sind die Besonderheiten der Frauen, denke ich, und da bin ich eben Mann und doch etwas grober.

Frau Mecklin sagt etwas zu der Musik, die heute gespielt wird und lenkt mit feiner — nicht fester — Hand die Gruppe, wenn die Mädchen nicht alles allein machen. Sie trägt heute ein langes weiches dunkelgrünes Kleid, das mit langen hellgrünen Wasserpflanzenblättern bedruckt ist, die sich im wogenden Wasser schlängeln. Irgendwo ist da ein kleines Tier zwischen den Blättern zu sehen, und jedesmal wenn sie das Kleid anhat, mache ich mir den Spaß, dieses Tier zu suchen und zu finden. Frau Mecklin hat auch ihre Freude mit diesem Kleid, das sehe ich, sie geht besonders elegant und fröhlich, wenn sie es anhat. Der Rockteil ist weit, und sie schwingt damit so weit umher, daß die Kerzen zu flackern beginnen. Sie hat uns mal erzählt, daß sie im Krieg als Krankenschwester in Lazarette verpflichtet war und schreckliche Leiden gesehen hat — nun will sie ihr Leben so still und freundlich und liebevoll leben, daß die leidenden und toten Seelen ihren Frieden bekommen, “das soll mein Beitrag sein, damit es wieder friedlicher wird auf der Erde.” Das verstehe ich zwar nicht, doch ich finde es schön, wie sie es sagt. Vielleicht werde ich es später mal verstehen, das wünsche ich mir. 

Röcke und Kleider sind ja schöner als Hosen oder gar ganze Anzüge. Das wissen schon ganz junge Kinder, und schon kleine Mädchen tanzen umher und lassen ihre Röckchen schwingen. Auch Jungen möchten das gerne, wir haben diese Kleidung aber nicht. Doch ein Junge in Waldfels hat mir erzählt, daß er früher, als er in der Schweiz lebte, sich weite bunte Röcke und Kleider von Mädchen geliehen hat und ganze Tage auf den Straßen und in den Parks seiner Stadt rumgetanzt ist. In Hochfels tanzen viele der Mädchen umher und vor einander und lassen ihre Kleider oder umgehängten Tücher fliegen, auch die Haare und Zöpfe — einfach so auf den Fluren oder im Klassenzimmer. Ich beginne nach ein paar Wochen Scheu auch damit, und das ist ein großer Schritt, denn nun bin ich mehr Mädchen als vorher.

Manchmal fahren wir mit dem Zug in die Stadt und veranstalten ein Tanzfest im Park. Da haben wir bestimmte Tänze einstudiert, doch auch frei tanzen wir nur so herum in unseren weiten bunten Tüchern und Kleidern und versuchen, die Zuschauer mitzureißen. Doch das gelingt selten, fast nur bei Kindern. Musik macht dann die Gilde mit Frau Mecklin.

Einmal ist da ein ziemlich zerrissener Mann, der hungrig und krank aussieht. Er fängt bald an, mitzutanzen, was sehr ungewohnt ist. Erst war er ein wenig tollpatschig, doch nun tanzt er recht elegant, er leiht sich ein rosa Tuch von mir und lässt es durch die Luft wehen, er wird immer besser. Nachher sitzen wir noch zusammen auf einer Parkbank und reden miteinander und ich schenke ihm das rosa Tuch. Er ist traurig und fröhlich zugleich und berichtet, daß er erst vor ein paar Wochen aus der Kriegsgefangenschaft gekommen ist und nun einen Platz sucht, wo er sich niederlassen kann, er war früher Tänzer in einem Ballett in einer Stadt, die nun polnisch geworden ist, “aber davon ist wohl nicht mehr viel geblieben nach all den Kriegswirren,” sagt er. Frau Mecklin gibt ihm ein paar Tips, wo er sich nun hinwenden kann. “Doch Sie können uns doch auch mal aufsuchen und etwas vortanzen und vom Tanzen berichten,” regt sie ihn an.

Wir laden ihn ein zu ein oder zwei, am Ende drei Bratwürstchen vom Stand und dann noch Eis, er genießt alles mit viel Freude und Lust und ißt sehr langsam, wir können uns wirklich viel abgucken von seiner Art. “Lange war ich nicht mehr mit so lustigen und schönen Mädchen zusammen,” sagt er versonnen.

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Frau Mecklin war mit einem Mann verheiratet, den ihr der Krieg genommen hat, er starb nach langer Krankheit in einem Gefangenenlager tief in Sibirien. Das haben ihr andere Gefangene berichtet, die zurück gekommen sind. Sie haben einen Brief von ihm mitgebracht, in dem er schreibt, daß er sie liebt und immer an sie denken muß, und das macht ihm das Leben im Lager leicht und hell. Wie sie das erzählt muß ich weinen, so schön ist das.

Trotz ihrer Fröhlichkeit hat sie auch viel Trauer. Wir saßen mal zusammen in dem Kaffee-Raum der Schule, wo wir zwar keinen Kaffee trinken aber manchmal still allein oder zusammen sitzen mit einem Glas Saft oder Kräutertee. Herr Kunze hatte mir gesagt, dieser Kaffee-Raum sei eine Art Meditationsraum, doch das verstand ich damals noch nicht.

Mit Frau Mecklin also sitze ich zusammen in diesem Raum und ich frage sie, wie sie nach all den Leiden und Schmerzen immer so fröhlich sein kann. “Ja, du siehst meine Kleider und wie ich mit ihnen lebe, ich mache mir immer neue und fröhlichere. Diese Kleider retten mich manchmal aus meinen Verbitterungen und aus der Trauer. Sie hängen in meinem Zimmer umher — statt Bilder —, und immer ist die Fröhlichkeit aus ihnen um mich herum. Und wie ich mich schmücke, mit Halsketten oder Tüchern, wie ich mein Haar zurechtmache . . .

“Doch wenn ich sehr traurig bin, gehe ich in Gedanken zurück in meine frühe Kindheit vor vierzig Jahren, die sehr fein und weich war, meine Mutter war so eine richtige liebevolle Mutter — was ja nicht alle Menschen bekommen. Dieses frühere Kind ist noch immer in mir, ich kann es an die Oberfläche rufen, ich esse dann zum Frühstück morgens einen süßen Kinderbrei, wie ihn meine Mutter immer gemacht hat, aus Pelargon und Obst und Sahne bereitet. Ich habe ein paar Teddybären, einen nehme ich in meinen Arm und erinnere mich an den Teddy in meiner Kindheit. Das alles hilft.”

Manchmal habe auch ich diese Traurigkeit. Dann gehe ich zu Frau Mecklin und lasse mir einen Kinderbrei machen und sie umarmt mich und wir liegen zusammen auf ihrem Sofa, Arm in Arm. Zu Weihnachten habe ich mir später einen Teddy schenken lassen, und der sitzt seitdem auf meinem Bett, und den knuddele ich, wenn ich so eine traurige Zeit habe. Für diese Zeit hier in Hochfels aber leiht mir Frau Mecklin einen von ihren, wir legen uns zusammen unter die Bettdecke, der Teddy und ich, und ich denke an die warmen Stunden im Bett meiner Mutti. Dann wird mir wieder wohler.

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Im Lesesaal hängt ein großes Bild, es ist wohl abgedruckt von einem berühmten Gemälde. Da sind ein paar Pferde, auf denen nackt Jungen sitzen und durch die Felder reiten. Die große Bärbel mit den langen blonden Haaren zeigt auf das Bild und sagt, “das muß doch wunderbar sein, so nackt auf dem Pferderücken . . . ” Sie malt ja, und sie ist eine der Reiterinnen auf Hochfels. Ihre Eltern haben der Schule drei Ponies hingestellt, Weiden und Stall gepachtet, und seit dem gibt es eine Reiterinnen-Gilde. “Ich möchte das mal versuchen, machst du mit?” fragt sie. Wieder eine dieser weiblichen Herausforderungen. Auf dem Bild ansehen ist eine Sache — ich habe schon manchmal sehnsüchtig die nackten Reiter angesehen und möchte auch mal  . . .  —, aber es wirklich TUN ist eine andere. “Wir können doch nicht so nackt hier durch die Felder reiten, das würde die größten Proteste geben. Wir müssen schon was anhaben, doch vielleicht nicht diese Reithosen, die so eng sind und uns vom Pferd trennen. Wir reiten einfach in weiten Röcken, oder?” Bärbel hat eine Idee: “wir nähen uns lange weite Kleider, der Rockteil muß so lang und weit sein, daß er wie eine Decke über unseren Körpern und dem Pferderücken liegt.”

Bärbel kann gut nähen, und so sind wir bald in der Nähstube . . .  “Natürlich dürfen wir nicht auf Sätteln reiten, das würde es nicht bringen,” sagt sie, “auf dem Pferderücken, und ohne Schlüpfer, ganz nackt unter dem Rock, mit der blanken Haut das Pferd fühlen.” Ich kann nicht so gut reiten, und bevor wir anfangen, lasse ich mir ein paar Stunden ohne Sattel geben um sicher zu sein. Es geht, ich und das Pony vertrauen einander, und an einem grauen Tag, wenn keine Spaziergänger rumlaufen, geht es los.

Es dauert lange, bis ich auf dem Pferd sitze, denn der viele Stoff des roten Rockes verknotet sich beim Aufsteigen immer wieder mit meinen Beinen. Dann habe ich´s gelernt. Oh, ist das ein wunderbares Gefühl. Ich bin dem Tier viel näher, fühle sein Fell an meiner Haut, fühle mehr als sonst die Bewegungen der Muskeln und der Wirbel vom Pony, aber auch die Bewegungen im eigenen Körper. Meine nackten Beine legen sich um die Seiten, und bald habe ich das Gefühl als ob ich ein Körper mit dem Pferd wäre — es gibt da so alte Bilder von Centauren, so komme ich mir vor: ein Mann und ein Pferd zu einem Körper verschmolzen. Bärbel und ich üben ein paar Tage, und schließlich galoppieren wir über die Feldwege. Wir müssen die Röcke zwischen Knien und Pferdebauch festhalten, damit der Wind sie nicht hochhebt  . . .

. . .  doch auch das geschieht, und wenn das Kleid nur noch um den Oberkörper und nach hinten weht und der nackte Körper vom Wind umtost wird, juchzen wir laut und hell — nun bin ich sogar eins mit dem Wind. Wer uns sieht, mag denken, da kommen die Verrückten von Hochfels. Ja, die Bauern hier um die Burg finden uns Mädchen schon recht verrückt, das macht uns aber Spaß.

Auf dem Pferd sitzend sehe ich an meinem nackten Körper hinunter und sehe, ich bin ein Junge — aber jetzt gerade mit der Bärbel auf einem ihrer Ponys bin ich ein Mädchen wie sie auch. Ist das nicht etwas Besonderes?

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Ja, die Nähstube: ein größeres Mädchen erscheint eines Tages in Strümpfen, die ein Schachbrettmuster haben. “Wo hast du die her?” — “selbst gemacht, lauter kleine schwarze Karos ausgeschnitten und auf die weißen Baumwollstrümpfe aufgenäht, hat zwei Wochen gedauert. Und sieh mal, ein Karo ist rot. Es sind Harlekinstrümpfe.” Die haben hier so viel Freude an solchen Sachen, entweder schmücken sie sich selbst oder ihre Zimmer: und immer was besonderes, auch sehr bunt. So was macht sofort Mode in der Schule: Nun erscheinen Strümpfe mit bunten Schlangenlinien, Röschen, bunt geringelte Strümpfe und so weiter. Ich sehe gar nicht, wo das alles herkommt, aus den gewöhnlichen Läden jedenfalls nicht. Dann erscheint was Neues: die Strumpfhalter werden immer bunter, eine stickt sich bunte Glasperlen drauf und fragt alle: “sieh mal, welches ist der echte Stein? Preisfrage.” Eine hat Bilder von Indianer-Männern gesehen, die auf ihren Pferden sitzen und nichts als ihre Leggins und ein Tuch zwischen den Beinen anhaben, alles an einem bunt geschmückten Gürtel befestigt: diese Halter und Gürtel werden nachgemacht, und bald laufen ein paar Mädchen in solchen bestickten Kleidungen rum, heben den Rock: “sieh mal, zu welchem Stamm gehöre ich?”

Eine Mutter hat einige Ballen Seide über den Krieg gerettet und färbt nun Tücher bunt, bemalt sie auch, die sie verkauft. Sie kommt zu einem Zwei-Tage-Kurs, und bald tanzen einige Mädchen mit neu erfundenen Mustern auf ihren Seidentüchern umher. Diese ganze bunte Welt der Mädchen-Fantasie und Lust will ich mitnehmen nach Waldfels. Vielleicht kann ich auch bei uns diese neue Lebendigkeit anregen.

Im Kaffee-Raum ist eine kleine Ausstellung an der Wand: die interessantesten Strümpfe, Strumpfhalter und Halstücher sind in Bilderrahmen aufgehängt.

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Sitze im sonnigen Blumengarten und döse. Kommt Herr Mihme und setzt sich dazu. Er ist bestimmt im Alter meines Großvaters, so um 60, denke ich. Ich frage ihn, “wie kommen Sie sich eigentlich so vor, so zwischen all den Mädchen und Frauen hier.” Lange sitzt er da und scheint zu überlegen, was er mir sagen will und kann. “Weißt du, ich glaube ich bin nicht so männlich, wie wir Männer sein sollten. Ich fühle mich den Frauen und Kindern sehr nahe. Mehr als den Männern. Im Krieg war ich oft in richtigen Männergesellschaften, das mag ich gar nicht, ist mit zu grob.” “Was meinen Sie mit grob?” frage ich. “Es fehlt das feine Gespür, es fehlt das Feine.

“Natürlich weiß ich, daß ich ein Mann bin mit allem, was dazugehört. In meiner Seele aber habe ich eine starke Hinneigung zum Fraulichen, ich glaube, in meiner Seele sitzt außer dem Mann auch eine kleine feine Frau. Ich habe da ein Bild: die beiden sitzen da und umarmen sich ganz dicht, und SO sind sie meine Seele. Wenn ich mit euch Mädchen zusammen bin, oder mit Frauen, dann fühle ich mich nicht als Mann sondern als eher Frau, oder besser, als garnichts besonderes, nicht Mann, nicht Frau.”

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Nun muß ich noch erzählen, wie es einem Mädchen auch ergehen kann in diesem Land: An einem freien Sonnabend wandern wir zu fünft in der Umgebung umher und sind sehr fröhlich, tanzen auf den Waldwegen, wie Waldfaune sagen wir. Auf einem Waldweg kommt uns ein älteres Paar entgegen. Ziemlich altmodische Leute, wohl längst pensioniert, gewiß noch aus dem vorigen Jahrhundert, könnten so alt wie meine Großeltern sein. Der Mann mit einem Spazierstock. Sie halten an, der Mann geht auf uns zu und fragt wo wir herkämen, doch da er nicht von hier ist, wie er sagt, kann er mit unserer Auskunft nichts anfangen. Wir seien wohl vornehmer Leute Kinder, meint er und lobt unsere guten Kleider und Blusen. Dann nimmt er seinen Spazierstock und hebt mit der Spitze das Kleid von Clarissa an um zu sehen, was sie darunter anhat. Seine Frau protestiert, doch er läßt sich nicht abbringen. Das Mädchen schiebt das Kleid runter und hält es fest und geht ein wenig zurück, er sagt aber, “ich möchte gerne mal wissen, was ihr Mädchen heute so anhabt, nicht wahr Hilda (seine Frau), als Kinder hattet ihr ganz lange Schlüpfer an und die Strümpfe gingen kaum höher als das Knie und hatten einfach ein Strumpfband ums Bein zum Halten, und deine Kleider gingen bis zu den Füßen — und alles war schwarz. Diese Mädchen heute sind viel adretter gekleidet — gewiß zur Freude ihrer Liebsten.” Wir sind alle sehr verlegen, denn ein Recht, das zu wissen mag er schon haben, aber nicht so. “Sie hätten ja erst mal fragen können, und wenn dann eine von sich aus den Rock gehoben hätte ..., was ich aber nicht glaube,” sagt Marianne, die Älteste von uns.

Wir gehen weg und hören noch wie die Frau ihrem Mann ein paar Worte zuflüstert, wahrscheinlich nicht sehr freundliche.

Unsere Stimmung hat sich sehr verändert. Erst sind wir still, doch dann kommt das Gespräch auf, was es eigentlich bedeutet, als Frau diese Kleidung zu tragen und fest dabei zu bleiben — durch die Jahrhunderte hindurch — und immer wieder in solche Fallen zu tappen. Das Risiko zu solchen Begegnungen ist doch groß. Eine will gleich morgen beginnen, nur noch Hosen zu tragen. “Das wäre dumm, nur wegen so´nem alten Daddy die Schönheit aus unserem Leben verbannen! Solche Dinge passieren immer mal wieder, und wir müssen einfach lernen, uns zu wehren ...” — “oder solche Daddys von der Schönheit und unserer Reinheit überzeugen, von der Schönheit des Weiblichen.” “Lieber sollten wir den Männern zeigen, wie blöd DIE sich kleiden und wie blöd sie dann zu uns sind, wahrscheinlich, weil sie selbst zu verkrampft sind um sich schöne Sachen anzuziehen.” “Unsere Kleidung ist die bessere.” “Hosen sind dumm — außer für bestimmte Arbeiten — na und Reiten, natürlich.”

Abends sprechen wir noch mit Fräulein Mansfeld über das Ereignis. Sie stimmt zu, daß wir eher unsere Schönheit ausstrahlen sollen als zu garstigen grauen Kellerratten zu werden — “na, das ist vielleicht übertrieben. Doch ich glaube ihr wisst, was ich meine. Ich habe eine alte östliche Technik gelernt. Die geht so: Stell dir vor, innen, in deinem Herzen brennt eine Kerze mit warmem Licht. Das Licht strahlt aus wie von jeder Kerze und erfüllt deine ganze Brust, deinen Körper. Du siehst nun deinen Körper als ein Licht, ein Lichtfeld sozusagen. Ein Licht, das in alle Richtungen weich und warm ausstrahlt, ein Lichtraum.

“Mach diese Übung so oft sie dir einfällt, bis sie immer häufiger wird und schließlich gar nicht mehr aufhört, das kann ein paar Wochen dauern. Du wirst sehen, daß die Leute anfangen, dein Licht zu sehen. Sie werden dich ansprechen, doch fange nie selbst an, sie zu fragen, laß geschehen wie es geht. Du strahlst nun Liebe aus. Und mit dieser Liebe, allumfassenden Liebe würde ich sagen, überzeugst du auch solche blöden Daddys. Du bist eine strahlende Fee in solchen Augenblicken.

“Aber bitte: es darf nicht etwa eine Waffe sein. Es muß deine ganz selbstverständliche Art werden.”

Wieder ist mir etwas so neu, ich kann es gar nicht so schnell behalten und lasse es mir nach ein paar Tagen nochmal erzählen. Ein Bildchen mit einer brennenden Kerze male ich mir und stelle es auf meinen Tisch — zur Erinnerung. Langsam gewöhne ich mich an diese Übung. Doch da wir darüber schweigen sollen, weiß ich lange nicht, wie es den anderen damit ergeht.

Wir fragen, “Fräulein Mansfeld, kennen Sie noch mehr solche Sachen?” “Diese Technik könnte noch weiter gehen: wenn deine Brust erfüllt ist von diesem liebenden Licht, laß es ausstrahlen durch deine Brustwarzen — oh das ist kein schönes Wort für etwas so Schönes —, laß es ausstrahlen in die ganze Welt, den ganzen Kosmos. Es ist wie mit der Milch für das kleine Kind, aber nun gibst du das liebende Licht der ganzen Welt.”

Leise sitzen wir und jede versucht, sich das vorzustellen. Das Zimmer in Fräulein Mansfeld´s kleiner Wohnung wird still, und einige von uns sehen es ganz gefüllt mit diesem Licht.

“Wo haben Sie das her?” “In Indien nennt man Gott ‘Schiwa´, er hat diese Techniken an seine Gattin ‘Schakti´ weitergegeben, als sie auf seinem Schoß saß und sie ihn fragte, wie die Menschen nun, nachdem er sie erschaffen hatte, leben sollten. Schiwa hat 108 solcher Techniken genannt, und sie hat sie an die Menschen weiter gegeben. So sind Liebe und Schönheit in die Welt gekommen — sagen die Inder.”

Dann kommt etwas erregt von einem Mädchen: “Da ist Gott ja ein Mann, das kann ich nicht glauben. Entweder ist Gott eine Frau, denn bei den Menschen ist doch die Frau die Schöpferin von neuem Leben. Oder Gott ist weder Frau noch Mann. Aber so?” “Wie ich das verstehe, ist Gott erst, wenn beide zusammen da sind, Frau und Mann,” sagt Fräulein Mansfeld versonnen, “aber ich weiß nicht viel davon, die Inder werden sich dabei was gedacht haben.” “Und was war, bevor es diese beiden gab, ein Mann-Gott?” Wir fragen Herrn Mihme, der mal in Indien war. “Da war Gott, weder sie noch er. Und Gott wurde es langweilig, so allein im All — oder im Nichts — und Gott teilte sich und es entstanden Schakti, das Weib, und Schiwa, der Mann. So kamen die Gegensätze auf die Welt und machten das Leben interessant — wenigstens für diese Gottheiten.”

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Ein paar Mädchen sind da, mit denen habe ich Schwierigkeiten. Zum Beispiel denke ich an Berta, die in einem anderen Stamm ist und zwei Klassen höher. Berta ist wunderschön anzusehen. Ich bin gerne in ihrer Nähe, weiß aber nicht, warum. Da ist aber etwas in ihrer Seele ... Außerhalb des Unterrichts trägt sie fast immer rote Strümpfe und eher schmale Kleider, sie achtet mehr als wir anderen auf die Schönheit und Sauberkeit ihrer Kleidung. Tief in ihr ist etwas, das mich sehr anzieht. Doch sie selbst mag dieses tief Innere wohl nicht, denn nur selten lässt sie es mal heraus, fast aus Versehen. Jedenfalls zeigt sie meistens einen Charakter, der — ich würde sagen — sehr künstlich ist. Sie kann auch nicht weinen, sehr selten jedenfalls, und dann geht sie schnell aufs Klo, damit niemand es sieht. Sie macht nur wenige Dinge mit, sitzt eher mit ein paar Freundinnen zusammen, und sie reden und reden und sonst nichts. Ich kann nicht lange dabei sein.

Irgendetwas ist da aber, das macht einen tiefen Eindruck auf mich. Vielleicht sieht sie selbst es nicht oder scheut sich, das zu leben. Statt dessen hängt sie sich mehr als wir anderen an Vorstellungen wie man macht oder das tut man doch nicht und so weiter. Ich glaube sie mag auch nicht, daß sie ein Mädchen, eine Frau ist. Vielleicht weiß sie nicht, was oder wer sie ist, weniger als die anderen Mädchen. Es ist so schade, und wenn ich sie ansehe und merke, daß ich ihr nicht näher kommen kann, bin ich traurig. Mehr weiß ich nicht über Berta — obwohl ich sie mag.

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Ein anderes Mädchen aber ist hier, die mag ich sehr, Leonore, sie fährt meistens in ihrem Rollstuhl, den sie mit viel Lebendigkeit bewegt, mit beiden Händen dreht sie die großen Räder. Leonore steht kurz vor dem Abitur, sie hat im Krieg, als sie Kind war bei einem Bombenangriff ein Bein ganz verloren und das andere ist schwer beschädigt und hat eine Prothese. Es fällt ihr sehr schwer zu gehen, mit zwei Krücken, die sie rot angemalt hat mit Blümchen-Abziehbildern darauf. Leonore hat ein Einzelzimmer, aber groß, und ein eigenes Bad, das für sie eingerichtet ist. Am liebsten will sie diese Besonderheiten nicht, doch sie muß sich immer wieder sagen lassen, “so ist das nun einmal, und du bist nicht hier um dir und uns deine Tapferkeit zu zeigen sondern um das zu lernen, was alle lernen. Du bist so schon tapfer genug, das reicht. Wichtiger ist es, daß dein Körper nicht so schnell verschlissen wird, indem du Sachen machst, für die er nun nicht mehr geeignet ist. Dann wirst du nämlich alle Kräfte ganz schnell verlieren.”

Oft sitze ich mit Leonore zusammen, oder wir spazieren in den Wald — einige Wege sind fest genug für ihren Rollstuhl. Leonore hat Erfahrungen mit ihrem Körper, die sonst keine von uns gemacht hat. “Weißt du, was ich gelernt habe? Alles, was da mit meinem Körper geschehen ist, zu lieben, und daß es richtig ist, auch wenn es wehtut und große Mühen macht. Das gehört zu mir, das bin ich, auch die körperlichen Schmerzen, auch die seelischen Schmerzen. Die kommen zeitweise, weil es nun nicht mehr so geht wie ich möchte. Habe mal einen alten Mann kennen gelernt, der hat mir so manches gesagt und viel geholfen. Wir treffen uns zwei, drei mal im Jahr, und dann bin ich ein paar Tage in seinem Haus irgendwo im Süden. Ich habe gelernt, in meinem Körper spazieren zu gehen und alles von innen anzusehen, so als Vorstellung. Und zu allem sage ich dann, hallo, schön, lieber Nerv, daß du da bist, hallo liebe linke Niere, wie gut du deine Arbeit wieder machst, hallo altes Herz, heute hast du wieder Liebesschmerzen gehabt, war´s schlimm? Und so gehe ich weiter. Eine halbe Stunde lang, und dann werde ich ganz ruhig, mein Geist wird ruhig — und ich bin ganz, ganz aufmerksam und sehe alles, was gerade los ist, innen und auch außen.

“Ja, so ist das mit der Liebe. Weißt du, was Liebe ist?” Ich habe keine Antwort. Lange sieht Leonore auf den Boden und aus dem Fenster, als ob sie nach einer Antwort sucht. “Nein, ich suche nach keiner Antwort, ich habe da so meine Ideen.”

“Warst du schon mal verliebt?” frage ich. “Ja schon, aber das meine ich nicht. Eigentlich bin ich immer verliebt, ich bin verliebt in das Leben und in die Menschen, ja alle Menschen, auch wenn sie sehr doof sind. Selbst ein Hitler verdient Liebe, denn ganz, ganz tief innen kann er nicht so furchtbar krank sein wie er sich außen gegeben hat, da hat Gott auch ihm ein bißchen von sich eingepflanzt. Ich liebe ganz gewiß nicht den Mann und all die anderen Verbrecher. Doch seine tief innere Seele, die er selbst so unsagbar schlimm verletzt hat und hat leiden lassen, die liebe ich auch. Wie sagen die Leute zu mir: dein Herz ist groß, ja so ist das. Habe mal gehört: Ich könnte die ganze Welt in Liebe umarmen,” und sie macht mit den Armen so eine Bewegung wie Umarmen. Nun liebe ich die Leonore, weil sie so schöne Sachen sagt.

Da kommt mir eine Frage, doch ich traue mich kaum, sie zu sagen: “du hast eben gesagt, wie du so in deinem Körper spazieren gehst und hallo sagst ... kannst du auch in dem Bein, das es garnicht mehr gibt, spazieren gehen?” “Ja, das ist eigenartig: ich kann. Nicht immer, aber wenn ich ganz dabei bin, wenn ich im Bett liege und alles um mich ganz einfach ist, dann geht es. Ich weiß, das es dieses Bein nicht mehr gibt, aber ich kann mit ihm sprechen,” sie lacht, “ich tue es einfach, und dann bin ich in dem Bein drin und kann ihm Dinge sagen wie Dank für die zwölf Jahre, in denen es bei mir war und meinen Körper getragen hat.” Leonore lacht ein wenig, aber ich muß weinen, so groß ist es, was sie sagt. Leonore umarmt mich, “schön, daß du so fragst.”

Und weiter: “wir haben ja nur EIN großes Wort, LIEBE, aber wir meinen so verschiedene Dinge damit. Ich habe mal gehört, daß andere Sprachen da mehrere Wörter habe, für die wir in deutsch nur das Wort Liebe benutzen. Der alte Mann hat mir das mal erklärt, ich hole male einen Zettel, auf den ich was aufgeschrieben habe.”

Das kann ich nun gar nicht verstehen: wie kann es so viele Arten von Liebe geben, daß jemand so viele Wörter dafür hat. Nach ein paar Minuten kommt Leonore wieder und schwingt mit dem Rollstuhl eine elegante Kurve um mich herum und steht plötzlich still neben mir — ich meine der Rollstuhl steht neben mir, mit der Leonore drin.

“Ich lese dir das mal vor: In der uralten indischen Sprache Sanskrit haben sie die Begriffe Anuraga, Bhakti, Prema, Mahabhava, Kama, und noch weitere. Anuraga ist die intensive Liebe für Gott. Bhakti die glühende Liebe und Hingabe zu Gott. Prema ist die höchste Hingabe an Gott, wenn Prema erlangt ist, erfolgt automatisch die Liebe zu allen Lebewesen, ja zur ganzen Existenz, das ist vielleicht mit Karuna gemeint, Karuna finde ich am schönsten. Prema ist also auch die Liebe zu einem anderen Menschen — aber erst, wenn du Gott liebst, sonst ist es keine Prema sondern vielleicht eher Begierde oder Ausnutzung des anderen, es ist oberflächlich. Karuna ist das Mitgefühl mit allem, also nicht Mitleid sondern, wie soll ich sagen: in Karuna bist du ganz auch im anderen Wesen, erlebst dessen Gefühle mit, siehst durch seine Augen die Welt. Irgendwie bist du dieses andere Wesen, irgendwie bist du jedes Wesen, bist du die ganze Welt.”

Na ja, Leonore ist schon in paar Jahre älter als ich, fast erwachsen, da kann sie sowas denken und sagen. Für mich ist das so neu und schwer verständlich, besonders Karuna, es verwirrt mich reichlich.

“Karuna? Stell dir vor, du stehst auf der Brücke da unten im Tal und guckst in einen kleinen Bach, da sind die Wellen auf dem Wasser, das weiter fließt. Stell dir vor du bist ein kleines Wassertier, das mit den Wellen hinabfließt und sich voll wohl darin fühlt, du genießt die Leichtigkeit mit dem Wasser zu fließen. Zwar bist du Rollia, die auf der Brücke steht und sich an das rostige Geländer lehnt, aber du bist auch dieses kleine Wassertier. Und du fühlst dich ganz eins mit dem Tier und dem Wasser und fließt mit ihm, dann bist du nicht Rollia. Dein Körper wird von der Strömung bewegt und genießt das. Du fühlst alles, was das Tierchen fühlt.

“Das ist Karuna, man kann auch Mitgefühl sagen — doch nicht Mitleid, das ist was anderes.”

Sie hat heute ein langes schwarzes Gewand an, das sie selbst mit bunten Blumen bestickt hat. Ich weiß gar nicht, ist es ein Kleid oder was. Es ist so weit als wäre es einfach ein großes Tuch über den ganzen Körper gewunden. Ja, da sind keine Ärmel, und ab und zu schmeißt sie eine Ecke des Tuches wieder über die Schulter. Über jede ihrer Brüste hat sie einen bunten Schmetterling gestickt — es muß lange gedauert haben.

“... in Karuna bist du die ganze Welt. Das heißt, wir gehören alle zusammen.

“Mahabhava ist ekstatische Liebe zu Gott. Kama ist die Liebe zu einem anderen Menschen, hauptsächlich Sex ... und so geht das weiter, vieles habe ich wieder vergessen.

“Ich glaube, was ich für meinen Körper empfinde ist Karuna, also Mitgefühl mit allem in ihm, auch mit den Gefühlen und Gedanken. Das alles haben mich diese großen Verwundungen gelehrt. Dankbar bin ich dafür, kann ich dir sagen. Fast bin ich sogar den Bomberpiloten dankbar, die die Bomben auf mich fallen ließen. Also jedenfalls bin ich nicht wütend auf die.”

Nun frage ich etwas, das gehört vielleicht nicht hierher: “Fühlst du dich in deiner Freiheit eingeschränkt durch diese Behinderung?” “Ja, in manchem ja, wenn ich nicht an all die Stellen im Wald gehen kann wie ihr, oder wenn ich sehe, wie du auf Bärbel´s Pferd durch die Felder jagst ... andererseits habe ich einen großen Freiheits-GEWINN erlebt durch diese Einschränkungen. Denn ich kann einfach nicht alle Regeln der Gesellschaft mitmachen, und da muß ich meine eigenen Regeln erschaffen, und das kann ich nach meinem eigenen Geschmack tun — DAS ist meine Freiheit, größer als bei anderen Menschen.”

Sonst trägt Leonore fast die gleiche Kleidung wie alle Mädchen hier, obwohl das sicher nicht leicht ist. “Du, Hosen an und auszuziehen ist aber schwieriger, denn dazu muß du mal aufstehen. Und zu pinkeln, wenn ich Hosen anhabe, ist fast unmöglich.” Ihre Röcke sind meistens lang bis auf die Füße. Oft saust sie mit ihrem Rollstuhl umher, und sie lässt die weiten Röcke fliegen im Fahrtwind, besonders den Berg runter auf der Straße. “Nicht immer ist dieses Leben leicht. Oft ist es schwere Arbeit, in diesem Körper zu sein, und dann wirst du wütend oder traurig oder verzweifelt ...” und nun weint auch Leonore ein wenig, sieht mich dann strahlend an und sagt: “Tränen sind wie Edelsteine im Gesicht, wenn du weinst, sieh mal in den Spiegel, wenn eine starke Lampe seitlich drauf scheint, dann ist das ganze Gesicht voller Edelsteine. Ich wische nie meine Tränen ab, sie gehören zu mir in diesem Augenblick, und alle dürfen sie sehen. Tränen sind schön!”

Ich wundere mich, was sie so alles macht und gestaltet. “Wo nimmst du die Zeit her? Denn du brauchst doch viel mehr Zeit für alles als wenn du gut gehen könntest?” “Ja, das ist wohl so. Ich brauche sehr wenig Schlaf, so vier bis fünf Stunden. Und dann ... ja, ich tue nur das, was mir wichtig ist. Ich lasse sein, was ich unwichtig finde, also einfach so rumsitzen und mit anderen nur so rumreden, und so weiter, das tue ich weniger.” Leonore redet sehr wenig, und wie ich sie in den folgenden Tagen so ansehe, merke ich: sie beobachtet alles sehr aufmerksam, denkt darüber nach (“ich FÜHLE eigentlich mehr, als daß ich über die Dinge nachdenke,” sagt sie mir später mal), und dann ist sie in einer inneren Welt, die nichts mit uns zu tun hat, die wir da um sie herum sitzen. “Weil ich mich sehr wenig errege, brauche ich so wenig Schlaf. Sich erregen zehrt an deinen Kräften, auch sich ärgern, ich ärgere mich fast nie.”

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Bärbel wohnt mit Clara in einem Zimmer. Ich besuche die beiden manchmal, und Clara hat uns einen Tee (Kräutertee) gemacht und stellt Kekse auf das Tischchen zwischen den beiden Betten. Ein kleiner Blumenstrauß steht da auch. Wie in allen Zimmern sind die Betten am Tage zum Sitzen, mit Tagesdecken bedeckt, die bei den beiden ganz bunt sind, wie sie sagen aus Mittelamerika, von Indianern stammend, “hat mal meine Großmutter mitgebracht”.

Und nun das Bild von Bärbel an der Wand: Ein kleines Gemälde doppelt so groß wie ein Zeichenblock. Es zeigt eine junge Frau oder ein Mädchen, die auf einem Mäuerchen sitzt und sich gerade bemüht, den Rock ihres Kleides wieder runter zu streifen, den ein Windstoß hoch weht. Es sieht so aus, als ob sie nicht wirklich will, daß der Rock wieder unten ist, sie zögert: was will ich denn nun? “Habe ich gemalt,” sagt Bärbel, “es heißt La Brise, die Brise. Ich will damit die Freiheit ausdrücken, die ich für mich beanspruche, mich so zu kleiden wie dieses Mädchen hier. Denn ich mag mich so kleiden, du ja auch, wie ich sehe. Sieh, der bunte Rock weht hoch, und du siehst die hellen Strümpfe, die Strumpfhalter und noch etwas ein weißes Rüschenhöschen — der Kleiderstil ist zwar altmodisch  . . .  aber wundervoll schön. Und das Jäckchen weht zur Seite, und in einer dünnen Bluse zeigen sich die Brüste. Und das Mädchen auf dem Bild zögert: was will ich eigentlich? — Doch dann: DAS bin ich, so bin ich Frau, so will ich´s sein, diesen Spruch habe ich bei Goethe gelesen, etwas anders allerdings. Das alles gehört zusammen zu mir.

“Dennoch, so´n alter Daddy soll sich nicht einfach die Frechheit nehmen, drunter sehen zu wollen ohne daß ICH es will. Ich will das voll selbst entscheiden wollen — oder meinetwegen die Brise, die darf das auch mal, ist ja auch ´ne Frau,” und Bärbel lacht, “ja, DIE Brise, also eine Frau.”

Ich frage die beiden, “was ist so besonderes an dieser Frauen-Kleidung, obwohl sie dich so verletzbar macht?” “Wie ich eben sagte, so bin ich Frau, so will ich´s sein — verletzlich zu sein ist eines der Risiken des Lebens, aber auch eines der Privilegien des Lebens, wie Fräulein Päckelmann sagt.” Bärbel trinkt vom Tee und knabbert an einem Keks. Sie hebt eine Hand und wedelt damit in der Luft, dann nach etwas Nachdenken  . . .

“ . . .  durch Verletzungen lernen wir, und deswegen sage ich JA zu dieser Kleidung, ich will lernen. Ich habe mal gehört, wir leben um zu erfahren — zu erfahren, wer wir sind. Als dieser alte Daddy der Clarissa das Kleid angehoben hat, lernte sie ganz schnell einiges über sich selbst, nämlich wie sie damit umgeht, wie verletzlich sie ist, aber auch: diese wichtigen Erfahrungen hätte sie nie gemacht, wenn sie immer Hosen trüge. Dann wäre sie immer abgeschlossen gegenüber Erfahrungen.” — Ich weiß gar nicht, woher diese Mädchen all diese Weisheiten haben. Macht das diese Schule? Warum lernen wir so was nicht auf Waldfels? — etwa, weil wir nie Röcke tragen?

“Wir Frauen tragen doch auch mal sichere Kleidung, Hosen und so. Aber ihr Männer verpackt euch IMMER so sicher — glaubt ihr jedenfalls —, dabei lernt ihr wenig über eure Seele, wollt die Verwundungen nicht zulassen, also deswegen erkennt ihr auch nicht, wie eure Seele damit umgehen würde, ihr könnt ja nicht weise werden. — Ach, pardon, du bist ja gar kein Mann, du bist ja auch ein Mädchen wie wir. Aber du weißt schon  . . . ”

Vielleicht wollen wir Jungen das nicht lernen. Unsere Interessen liegen an anderen Stellen, Sport, Technik, Wissen, Wissenschaft, Handwerk, Politik und alles solche praktischen Dinge — praktisch?

Clara gießt noch Tee ein. Sie ist noch jünger als ich, sie ist besonders lebendig, aber nicht nervös oder so: eine lebendige Offenheit — so bekam sie vielleicht mal diesen Namen, denke ich lächelnd. “Worüber lächelst du?” fragt sie, und ich erzähle ihr meine Gedanken. Lachend sieht sie mich mit ihren großen und bunten Augen an: “ja, ich weiß, ich hoffe nur, daß sich das nicht ändert, wenn ich älter werde.”

 “Verletzlich zu sein macht das Leben so riskant,” sagt Bärbel dann. Irgendwann sagt sie auch: “Ich finde, daß eine Mutter erst dann eine gute Mutter ist, wenn sie zuläßt, daß ihr Kind sich auch mal am Streichholz verbrennt, dann weiß es Bescheid.”

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Leonore hat die Naturschutz-Gilde eingerichtet — obwohl sie so wenig in die Natur hinaus kann, doch Regina leitet die Gilde, weil für Leonore bald das Abitur kommt. Doch “an mir selbst merke ich ja, wie leicht das Leben verletzt und getötet werden kann. Und Leben ist doch so etwas Schönes! Und das müssen wir doch beschützen, wo wir Menschen die Gefahren sehen können.” Besonders kümmern wir uns darum, daß die Wanderfalken nicht gestört werden. Wenn sie brüten, sind fast immer ein oder zwei Mädchen im Umkreis um das Nest. Sie haben da ein Feldtelefon und sind mit der Schule verbunden. Wenn etwas Verdächtiges geschieht, also wenn Leute sich zu sehr dafür interessieren, rufen wir schnell Verstärkung heran. Und dann kommen schnell zehn oder zwanzig Mädchen heran gestürmt — ich glaube, so können wir schnell Nesträuber in die Flucht jagen. Fräulein Mansfeld, die die Gilde betreut, sagt, daß manche Menschen die Eier oder Jungen rauben um sie für viel Geld in den Orient zu verkaufen, wo sie als Jagdfalken abgerichtet werden.

Die Naturschutz-Gilde kümmert sich auch um ein paar Teiche in den Umgebung, in die manche Leute immer wieder Müll schmeißen. “Wir holen den Müll raus, und einmal hat die Gilde ihn auf den Hof der Leute zurückgebracht, von denen er stammt. Die Bäuerin war so gerührt, daß sie uns mit Kakao und Kuchen bewirtet hat, und schließlich hat sie auch ihren Mann überzeugt, daß die Teiche erhalten und sauber bleiben müssen,” erzählt Regina, die dabei war.

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Es gibt ein paar Tage im Sommer, an denen die ganze Schule Ausflüge macht. Wir vom Stamm Mansfeld wollen dieses Jahr eine dreitägige Wanderung durch die Umgebung machen, alte Burgen ansehen und einen besonders interessanten Bauernhof besichtigen. Und zwei Nächte wollen wir in einer Jugendherberge übernachten. An einer langen Stange befestigen wir ein hellblaues Wimpel, auf das wir einen strahlenden Stern gemalt haben, auf dem ein Rabe sitzt. Das trägt  nun immer eine voran. Die Reitgilde besorgt noch einen dritten Wagen, und die Pferdewagen begleiten die einzelnen Wandergruppen und fahren Verpflegung mit. Das geht, weil von der ganzen Schule nur drei Übernachtungsplätze benutzt werden: zwei Jugendherbergen und ein Bauernhof, jeder Gruppe schläft in einem dieser Orte. Wir treffen zwei der anderen Stämme wieder, doch die Stämme bleiben für sich.

Während dieses Ausflugs trage ich meine Wanderkluft — die Strickjacke und díe gestrickten Wollstrümpfe. Allerdings rolle ich die Strümpfe meistens runter, was zu dem Sing-Spruch führte, “die Rollia rollt ihre Strümpfe runter!”

Und noch immer habe ich Henriettes grünen Träger-Rock, der sich auch gut für diese Wandertage eignet, er darf auch mal etwas erdig werden, er ist so unempfindlich. Außerdem hat er große Taschen — wie eine Hose denke ich, etwas jungenhaft. Einige Mädchen haben tatsächlich eine lange Hose angezogen, sie wollen ihre schönen Kleider nicht gefährden. Sie wollen auch mal “durch´s Gestrüpp kriechen.” Was das damit zu tun hat, verstehe ich allerdings nicht. — Nun dürfen unsere Beine mal richtig nackt sein, und ich genieße das am Tage. Immer diese langen Strümpfe, das ist schon lange kein Genuß mehr. Clara hat einen großen Hund, der auch in Hochfels leben darf, allerdings wohnt sie mit ihm ein einer Kammer außerhalb der Burg, außen an der Burgmauer. Der Hund heißt Frieda und läuft immer hin und her. Mit Frieda verstehen sich alle Mädchen, und wir haben das Gefühl, daß Frieda uns beschützt.

Die Burg, die wir besuchen, ist allerdings eine alte Ruine. Zuerst bewundere ich die dicken Mauern, die viel höher sind als die in Hochfels. Ich gucke durch die Zinnen, und ganz ernsthaft stelle ich mir kriegerisches Getümmel vor mit all den Bogenschützen und Schwertkämpfen. Die anderen aber suchen zuerst die Küche und die Wohnräume und raten herum, wo die wohl gewesen sein mögen. Dann kommen einige zu mir auf die Mauer und albern da herum. Einige stellen sich auf die dicken Zinnen und rufen voller Lust, “wie windig das hier ist, sieh mal wie mein Rock weht.” Sie necken mich und sagen, “du bist und bleibst ein Junge, du willst kämpfen und töten. Komm mal mit und suche die Küche.” Das war für mich nun ein Leichtes, denn der Rest der Küchenschornsteins ist noch da, und den entdecke ich sofort.

Der Bauernhof ist allerdings eine Fischzucht mit vielen Teichen. Alles wird uns erklärt, der Fischmeister selbst macht uns eine Führung, aber ich finde das zeimlich uninteressant. Hinterher lädt er uns ein, einige seiner Forellen gebraten zu essen. Das ist der beste Teil dieser Besichtigung, denn da sind alle fröhlich und genießen das Gericht. Die anderen Mädchen lassen sich ausführlich erklären, wie die Fischersfrau die Fische zubereitet hat, doch ich denke, sie hat sie einfach in die Pfanne geschmissen und fertig.

Von der Herberge aus gehen wir an einem Abend in den Wald und wollen Rehe und Hirsche beobachten, ein Förster will uns begleiten. Es wird recht kalt, und nun freue ich mich über meine dicken Strümpfe, meine Beine sind doch recht verpimpelt worden in den Wochen, in denen sie fast nie nackt waren. Oder nach einem ganz langen Rock, den ich um die Beine wickeln würde, doch ich habe sowieso keinen. Still sitzen wir am Rand einer Lichtung im Gebüsch verborgen, und wie es dunkel wird, stehen da tatsächlich plötzlich drei Rehe. Es geht so plötzlich, wirklich, und ich wundere mich, wieso ich sie nicht habe kommen gesehen. Zwei der Mädchen sind so begeistert, daß sie laut los juchzen — und da sind die Rehe natürlich weg, und wir gehen zurück. Es ist dunkel und etwas unheimlich, weil wir nichts sehen aber viel hören im Wald. Nun habe ich das Bedürfnis, etwas langes und festes um die Beine zu wickeln, nun ist der halblange Rock mir zu offen und die Beine trotz der Strümpfe zu nackt, und ich habe etwas Angst.

In der Jugendherberge sind auch ein paar Jungen. Wir fühlen uns stark in der Gruppe, doch wenn ich hier allein wäre, hätte ich mir zum Schutz schnell eine Hose angezogen. Ja, das höre ich auch von anderen Mädchen: in Gefahr ziehen wir lieber lange Hosen an, am besten solche, die unten zugebunden sind.

Und tatsächlich passiert es, was ich kaum so gedacht hätte: wie ich mal allein im Garten umher gehe, kommt einer der großen Jungen und neckt mich, ist frech und will meinen Rock hochheben — da ist es wieder! Natürlich wehre ich mich, ich will das nicht. Ich finde den Kerl eklig und stinkig und schreie ihn an, und da geht er schnell weg. Hinterher erzähle ich das den anderen, und ich sage, “ich möchte aber gerne Röcke tragen, das ist meine Art, und ich will mir das nicht durch so´n doofen Kerl vermiesen lassen,” und schluchze ein paar Minuten. Federike will mich umarmen und trösten, doch Fräulein Mansfeld nimmt ihren Arm wieder von meiner Schulter und sagt, “lass Rollia ein wenig schluchzen. Wenn du sie trösten willst, kommt ihr Weh nicht raus, sondern sie stopft es nach innen. Und bleibt da wie ein dunkler Kloß hängen.” Nach ein paar Minuten ist mir wieder wohl, und ich umarme alle voller Freude und Liebe und lache — über nichts. “Siehst du, das nenne ich stark sein, durch deine Tränen hast du deinen Schmerz in Schönes verwandelt und lachst wieder,” sagt Fräulein Mansfeld.

Ich weiß aber: ich bin in Wirklichkeit schwach und klein, bin ein schwaches Kind. Doch durch Fräulein Mansfeld´s Worte lerne ich: schwach sein und stark sein ist beides richtig, beides gleich richtig. Und dann kann ich auch stark sein — und sei es, mit den anderen zu weinen, wenn der Schmerz oder der Zorn da ist, und mit Tränen zu schreien und die Fäuste zu gebrauchen. Da ist Leonore mir ein Beispiel: sie ist so schwach in ihrem Körper, doch stark ist sie auch.

Klein Helga sagt dazu, “als die Flüchtlinge kamen, erzählten sie davon, wie schwach sie sich fühlten auf der Flucht, wie gedemütigt sie sich fühlten. Jeder fremde Soldat hätte alles mit ihnen machen können, jeder Flieger sie aus der Luft angreifen können. Sie waren völlig hilflos.” Fräulein Päckelmann, die mit ihren Mädchen dazu gekommen war, sagt, “und wißt ihr, da entsteht eine ganz feine Stärke, auch eine große Wachheit und Aufmerksamkeit. Dann wissen wir, was das Richtige zu tun ist. So liegen Schwachheit und Stärke ganz dicht zusammen.”

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Ja das mit der Wut: einmal sehe ich wie eines der Mädchen (ich will die Namen hier nicht nennen) ein anderes schwer beleidigt hat. Die beleidigte rennt heulend weg und versteckt sich in ihrem Zimmer, doch nach ein paar Minuten kommt sie wieder hervor, schäumend vor Wut sagt man ja, die Fäuste geballt, den Unterkiefer vorgeschoben, die Augen dunkel blitzend und stapft voller Kraft und Wut auf die andere zu und schreit sie laut und kraftvoll an. Nun fängt natürlich die andere an zu heulen, aber sie bleibt da, wir anderen stehen blaß geworden herum und tun nichts. Die beiden sehen sich lange in die Augen bis sie sich schließlich die Hände geben und sich dann umarmen, wieder unter Tränen.

Fräulein Päckelmann, die das aus einem Fenster gesehen hat, sagt uns später, “da seht ihr, wie eine ihre Wut ausgelebt hat. Wenn ihr eine Wut NICHT auslebt, dann versteckt sie sich tief in deiner Seele und kommt zu ungelegener Zeit heraus und wird dann ganz häßlich. Ihr beide habt sie aber ausgelebt — ohne euch wirklich zu verletzen. Und nun ist alles vorbei und vielleicht mögt ihr euch nun sogar mehr als vorher.” Eine fragt, “wie kann ich meine Wut denn ausleben, wenn die Gegnerin — sozusagen — nicht da ist?” “Der Himmel ist riesengroß, er kann ganz leicht vertragen, wenn du deine Wut da hinausschreist. Geh in den Wald oder wo du sonst allein bist, und schreie alles hinaus, was da in dir an Wut steckt. Egal ob alte oder ganz frische Wut. Und tu das ohne Worte, nur schreien, so laut wie du kannst und lange, manchmal brauchen wir eine halbe oder ganze Stunde dazu — natürlich mal mit einer Pause. Hinterher atme tief durch und tu, was gerade schön ist.”

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Manchmal kommen Eltern zu Besuch, am Wochenende. Meine Eltern kommen auch an so einem Sonntag, denn ihren Sohn als Mädchen zu sehen, finden sie schon spannend. Mein Vater ist recht verlegen und weiß nicht wie er mit mir umgehen soll, er steht da steif herum. Doch ich gehe direkt auf ihn zu und begrüße ihn — Kleine Helga sagt später, wie ein Mädchen seinen Vater begrüßt, so wäre ich gewesen, nicht wie ein Junge, doch ich verstehe nicht, was sie meint. “Du hast so gestrahlt, bist auf ihn losgestürmt und hast ihn gleich umarmt und geküsst, bist um ihn rumgetanzt und hast dich richtig gefreut, und dein Kleid ist umhergeflogen ... ich dachte schon, nun fängt die Rollia gleich an zu singen. Dann hast du ihn mitgenommen auf die Bude von mir und Henriette, und dann hast du einen Kakao für alle bereitet — das hätte mein Bruder nicht so gemacht.”

Bald werden ja Sommerferien sein, mein halbes Jahr wird noch nicht rum sein, und wir besprechen, ob ich in den Ferien zu Helga´s Familie mitfahren kann. Meine Eltern sind zwar traurig, aber sie meinen, das gehört zu diesem Experiment nun mal dazu, und vielleicht können Helga und ich ja auch mal zu ihnen kommen. Das wird aber schwer sein, da wir weit auseinander wohnen — “na dann später, in anderen Ferien” meint mein Vater.

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In Hochfels sehen wir selten Jungen, nur eine Lehrerin hat einen kleinen Sohn. Doch wie ich mal alleine im Wald umherwandere, treffe ich einen größeren Jungen, und wir kommen ins Gespräch. Wie ich beobachtet er Vögel und Pflanzen. Das ist schnell Gesprächsstoff. Wir setzen uns auf eine Bank und er erzählt, was er hier schon alles gesehen hat, welche Vögel und so weiter. Doch er sagt auch, daß er mich gerne mag und mich gerne wieder treffen würde. Ich habe den Verdacht, das soll wohl eine Liebesgeschichte werden. Das wird mir zu schwierig, obwohl ich ihn auch mag. “Du, ich bin aber ein Junge, weißt du,” sage ich schnell. Er sieht mich an und findet “Du hast aber dennoch ein süßes Gesicht, siehst ganz süß aus.”

Wie so oft, geht mir in diesem Augenblick wieder mein Strumpfhalter los — ich frage mich, muß ich nun aufstehen und mich umdrehen, wenn ich ihn wieder befestige (schließlich muß ich dazu ja meinen Rock hochheben) oder darf ich als Junge neben einem Jungen das alles einfach tun. Ich merke, nun ist es ein Spiel, aber welches? Spiele ich nun das Mädchen oder den Jungen? Oh je, was bin ich denn nun eigentlich? Der andere löst aber alles ganz leicht: “du, dein Strumpf ist ja lose, mach ihn doch wieder fest!” und neben ihm auf der Bank sitzend schiebe ich den Rock hoch  . . .

Wir treffen uns nun ab und zu im Wald — ich weiterhin als Mädchen in schönen Röcken mit bunten Schleifen, er als Junge in diesen schwarzen bauchigen “Trainingshosen”, wie diese häßlichen Dinger heißen, die wir Jungen alle so oft tragen. Ich mag das so: mich als Mädchen einem netten Jungen zeigen.



Wieder zurück in Waldfels

Ein halbes Jahr bleibe ich in Hochfels. Zwei Wochen nach meiner Rückkehr nach Waldfels fragt mich Herr Kunze — unser Heimleiter — was denn nun geschehen wäre mit mir. Erst verstehe ich seine Frage nicht richtig, doch dann sage ich, “als ich zu den Mädchen ging, war ich erregt, ja freudig erregt. Und sie haben es mir leicht gemacht und viel gezeigt. Es war schön, und ich habe viel gelernt und Freude gehabt.

“Vielleicht war es leicht für die, weil ich Mädchenhaftes an mir habe, weil ich es liebe — so wie mein Jungenhaftes auch.

“Jetzt aber, also neulich, als ich hierher zurückkam, kam es mir so vor, als ob ich aus einer reinen Welt zurück in eine unreine Welt komme. Diese Welt hier ist mir zu männlich, ich mag das nicht, fühle mich nicht wohl.” Ab und zu trage ich nun auch in Waldfels meine Wanderkluft, richtig mit Mädchenrock. Das ist immer interessant, denn die anderen Jungen haben dann besondere Hochachtung vor meinem Mut, wie sie sagen.

Herr Kunze sieht mich an und zögert mit dem nächsten Satz: “ ... du hast Freude gehabt, mehr als ich vorher gehofft habe — aber selbst ein halbes Jahr ist nicht ein ganzes Leben. Als Frau zu leben ist genauso schwer oder leicht wie als Mann zu leben. Es kommt auf dich an, was du daraus machst. Hast du in einem Feen-Land gewohnt? Warst du sozusagen Fee unter lauter Feen?”

Da protestiere ich: “ich bin doch kein Mann, auch keine Frau! Ich bin ein Junge — oder auch mal ein Mädchen. Ist das nicht was anderes?” “Ja, das stimmt. So sollte ich das auch sehen. Ein Junge ist doch reichlich anders als ein Mann. Wir sollten auch nicht sagen, du mußt dich darauf vorbreiten, einmal ein Mann zu werden, ich will das nie sagen. Solche Zukunftspläne sind jetzt unwichtig, die verwirren einen nur. Es ist richtig so zu sein wie du jetzt gerade bist.”

Das mit den Feen verstehe ich nicht. Die Mädchen waren doch keine Feen da in Hochfels. Erst nach einigen Tagen glaube ich zu verstehen, was Herr Kunze meint: Feen sind so etwas wie ganz schöne und reine Traumwesen — und er meint vielleicht, daß ich uns alle — die Mädchen und mich auch — als Feen empfunden habe, wie Feen — weil es so schön war. Ich möchte mir ein Bild über mein Bett hängen von einer Fee, vielleicht eines der Mädchen auf Hochfels, ach nein, nicht eine von den Mädchen, die sind ja echte Menschen. Eine Fee ist aber ein Traumgebilde, oder? Das sind jetzt so meine Träume, Tagträume sagt man wohl. — Doch Feen sind wir NICHT, die Hochfelser Mädchen und ich, niemals.

Erstmal sage ich aber: “Hier in Waldfels ist wieder diese alte Art, wie Männer denken, die mich abstößt. Ich weiß nicht, ob ich das so genau erklären kann. Zum Beispiel das mit den Wettbewerben, im Sport, in den schulischen Leistungen, in der Tischlerei — wo ich wieder gerne bin —, wieviel Geld die Eltern haben und noch manches andere. Auch wie gut ein Lehrer ist, oder wie beliebt. Oder wie schnell ein neuer Autotyp ist  . . .  alles auf gute Leistung ausgerichtet, nur das! Und diese düstere Kleidung! Auch sowas wie Sie damals berichtet haben über uns, wie wir uns in der Stadt gegenüber Mädchen verhalten haben.” Und dann fällt mir eine Bemerkung von Fräulein Päckelmann ein:

“Fräulein Päckelmann ist die Weiseste dort, ich mag sie am meisten. Sie sagte mal, `Selbst in der Religion wollen Männer immer recht haben. In der Politik schon gerade. So entstehen immer wieder Kriege.´ Sie sagt auch, `aber um die Schönheit einer Stimme, eines make-up oder eines schönen Kleides oder für ein paar besondere Kochrezepte würde man nie Kriege anfangen. Deswegen würden die Kriege nie bei Frauen beginnen.´ — Ach ja, da sage ich schon wieder `man´. Ich glaube nach dieser Zeit mit den Frauen und Mädchen sollte ich lieber `frau´ oder `mensch´, aber auch `man´ sagen, je nachdem, was ich wirklich meine.

“Ich fühle mich etwas traurig jetzt.”

“Möchtest du denn ganz bei den Mädchen und Frauen leben? Wäre das dein tiefster Wunsch, ganz tief innen?”

“Weiß ich nicht. Ja, da ist so ein tiefer Wunsch. Na ja, das Feen-Land vielleicht. Aber das geht ja nicht. — Doch ... wissen Sie, ich liebe ja das Abenteuer, möchte immer was Neues erleben, möchte sehen, wie das Leben wirklich ist. Also, ich bleibe hier und werde sehen, wie ich zurechtkomme. — und was dabei herauskommt. Und meine Wanderkluft hilft mir dabei, zu mir zurück zu kommen, wenn ich zu weit abirre.”

Herr Kunze will mich aufmuntern: “Nein, so nicht. Früher habe ich gesagt, ihr sollt nach den Erfahrungen in Hochfels den anderen Jungen hier davon etwas zeigen. Ihr habt nun eine Botschaft mitgebracht, denke ich. Lebe diese Botschaft — nicht indem du Mädchenkleider anziehst, sondern indem du ein Junge bist, für den die Mädchen und Frauen ganz sind, voller Liebe sein Leben erfüllen. Über den die Frauen sagen können, der hat eine hohe Achtung vor den Frauen.

“Deine Aufgabe war und ist, dieser Botschafter zu sein. Dann darfst du auch gerne deine Wanderkluft anziehen.”

Mir ist diese Aufgabe etwas zu schwer, glaube ich. Auch lenkt sie von meiner Abenteuerlust ab, denn ich sehe schon: wenn ich von meinen Erlebnissen erzählen will, machen die anderen Jungen die Ohren zu oder sprechen sofort von etwas anderem. Es ist etwas wie Brotteig, so zäh, ohne Form oder Schönheit oder Freude.

“Ja, eigentlich — tief innen — möchte ich ganz bei den Mädchen und Frauen leben,” sage ich noch mal, “doch ich weiß auch, daß mein Leben als Kind bald zuende sein wird, und dann, als Mann, kann ich nicht mehr wie ein Mädchen sein, in keiner Weise. Das finde ich traurig, daß die Natur uns zwingt, ein Mann zu werden, einen dahin drängt, doch da ist wohl nichts zu machen.” Herr Kunze sieht das auch so und meint, ich solle doch das Schönste aus dem machen, daß ich mich langsam zum Mann hin entwickle.

“Aber du lebst JETZT. Ich kann nur empfehlen: lebe so, wie du JETZT bist, jetzt, als ein Junge von 13 mit deinen eigenen Gedanken und Interessen. Für eure Zukunft aber wollen wir Lehrer schon sorgen. Das ist nicht die Sache der Kinder und Jugendlichen.”

Das nimmt mir eine Sorge: “ich darf also so sein, wie ich will?”

“Ja ja, gewiß ... also fast, aber nicht ganz. Frage dich mal: ‘was will ich wirklich, was will ich wirklich?´ und immer wieder. Sowas meinte ich vorhin als ich sagte ‘tief innen´, es geht um das, was wirklich ist, nicht um Anschauungen und Wünsche, die eigentlich von anderen erdacht sind und die du dir nur abgeguckt hast — so machen es ja die meisten  . . .

“Um das zu erkennen, was ich WIRKLICH will, müssen wir etwas an uns arbeiten.” Ich frage nach einem Beispiel um das klarer zu verstehen. Herr Kunze erwähnt das Auto, “alle wollen wir ein Auto haben, auch wenn es gar nicht nötig ist. Und dann eine besondere Marke, oder die Kleidung, die sich nach der Mode richtet — das haben wir von anderen übernommen, oder von der Werbung oder so was.”

Es wird still um uns. Auf einem kleinen Tisch steht eine sonderbare Figur aus Metall, ein Mensch sitzt da mit überkreuzten Beinen, ich meine im Schneidersitz. Die Augen sind zu, und die Hände kreuzen sich auf dem Schoß. Das Gesicht ist so, daß ich nicht erkennen kann, ob da eine Frau oder ein Mann sitzt — oder ein Mädchen oder ein Junge. “An dieser Figur siehst du, wie wir Menschen eigentlich sind, nicht männlich, auch nicht wie eine Frau. Eher wie ein Kind. Ein Kind ist weder Frau noch Mann, es ist Kind. Wenn wir DAS Kind sagen, dann zeigt das schon: weder DIE Frau noch DER Mann. Frau oder Mann werden wir erst, wenn wir nicht mehr Kind sind. — Manchmal frage ich mich, wäre es nicht richtiger, wenn wir gar nicht unterscheiden würden zwischen Mädchen und Junge.”

“Und warum machen wir das?” frage ich — das sind sehr eigenartige Gedanken, die er da sagt. Herr Kunze antwortet, “zwar sind Jungen und Mädchen nur wenig verschieden. Doch wir Erwachsenen machen diese großen Unterschiede, erziehen sie schon zu diesen Unterschieden, was manchen Kindern gar nicht gefällt und sie protestieren wild. Das sind die interessanteren Menschen, die da als Kind schon so protestieren. Vielleicht auch du mit deiner Wanderkluft.

“Und wir erziehen unsere Kinder so, weil wir von Anfang an einen jungen Menschen auf seine spätere Rolle vorbereiten wollen, nein hinlenken wollen. Wir haben etwas vor mit einem Jungen: er soll mal ein Mann sein. Da übertreiben wir aber: die Mädchen bekommen zum Beispiel eine Kleidung an, von der wir annehmen, daß sie mädchenhaft ist, frauenhaft. Und Jungen entsprechend. Und wir trennen sie in den Dingen, die wir ihnen beibringen. Und wir fördern bei den Mädchen noch die kleinen Interessen, die uns fraulich erscheinen, und bei Jungen die männlichen Interessen. Wir sagen euch schon jetzt, wie ihr mal als Mann sein sollt. Auch wenn es dir als Kind noch nicht gefällt und du lieber Kind sein willst.”

“Also SOLL ich mich DOCH darauf vorbereiten, mal ein Mann zu werden?” “Nimm´s nicht so ernst! Laß mir die Sorge,” wir sitzen nebeneinander auf einem Sofa, und Herr Kunze legt den Arm um mich und sagt, “sei Kind wie es dir gerade recht ist.”

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 “Ja, und diese Figur auf dem Tisch: die zeigt, wie der indische Meister Buddha ausgesehen haben mag: es ist die Art, wie er uns die Meditation zeigen will. Das ist eine sehr wichtige Lehre für mich, und ich wünschte, daß seine Lehren von den Menschen wieder ernst genommen würden, auch hier im Westen.”

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Herr Kunze kommt zurück auf den Schüleraustausch:

“Hier sind ja auch ein paar Mädchen aus Hochfels gewesen. Ich fand es sehr spannend, die zu beobachten, auch die Jungen zu beobachten. Die Mädchen wurden selten wirklich zu Jungen, sie haben es meistens nur gespielt, nur manchmal kam ihre männliche Seite durch, manchmal beim Sport oder Theaterspiel. Beim Diskutieren waren und bleiben sie ganz anders als die Jungen. Sie haben nicht wirklich diskutiert sondern alles eher gefühlsmäßig getan.

“Frau Grabow hat mir erzählt, daß ihr Jungen viel mehr zu Mädchen wurdet als die Mädchen hier zu Jungen. Es hat ihr Spaß gemacht zu sehen, wie ihr in der Schar der Mädchen aufgingt, euch hineinfallen ließt, ein wenig damit verschmolzen seid.”

Ja, so war es wohl, doch ich habe kaum bemerkt, daß ich mich hineinfallen ließ. Es hat einfach Spaß gemacht, und das war´s.

“Jede Frau hat ja auch Männliches in der Seele, so wie jeder Mann Frauliches in der Seele hat. Das zu entdecken, war für euch wohl das größte Erlebnis dieses Experiments. Doch ich glaube: ein Junge hat mehr Frauliches — oder Mädchenhaftes — in seiner Seele als umgekehrt eine Frau Männliches hat. Vielleicht werdet ihr später die Erinnerung behalten, wie eure weibliche Seele aussieht, was sie vermag, das hilft im Leben.”

Verlegen schüttele ich langsam den Kopf. Das alles ist schon wieder so neu für mich,  . . .  obwohl manches, was ich in Hochfels gefühlt habe, mir nun klarer wird. Damals konnte ich das noch nicht sagen, ich hatte nicht die Worte dazu. Herr Kunze sagt noch:

“Oft frage ich mich, wie ich mich selbst erkenne: wievel Frau ist in mir? Vielleicht mehr als in vielen anderen Männern. Was ist denn bei mir das Frauliche im Mann? Vielleicht, daß ich offen bin für vieles, was von außen kommt, ich erlebe das alles so stark, mit Gefühlen, mit Ernst oder Lachen oder Weinen — ja ich kann auch weinen, was viele Männer ja nicht mehr können, besonders nach diesem Krieg. Und noch was Eigenartiges: wenn ich mich im Spiegel ansehe: meine Lippen sind immer ein wenig offen, ich sage mal eine Art `Kußlippen´,” und er lacht etwas.

“Doch die meisten Menschen hier haben fest zugepresste Lippen, ich denke, das kommt von den schrecklichen Kriegserlebnissen. Wo ich die ganze Zeit lebte, in Thailand, da haben die Menschen offenere, weichere Lippen, wie Kinder.”

Still sitzen wir eine Weile zusammen, und ich fühle immer mehr Liebe zu diesem Mann. Mir kommen Tränen, wenn ich ihn ansehe, und wie wir uns in die Augen sehen, hat auch er Tränen, die ihm langsam über das Gesicht fließen. Nach langer Zeit fragt er,

“findest du es gut, daß die Schulen mit diesen Experimenten begonnen haben? — ich meine diesen Schüleraustausch? Sollen wir damit weitermachen? Wird das für alle gut sein? Wird es für das Zusammenleben der Menschen gut sein?”

“Ja, ich glaube. Wir sollten es machen. Ich würde auch wieder so etwas tun.”

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 “Für Dich, Rolli, habe ich aber noch eine andere Aufgabe. Wir hier in Waldfels leben doch ziemlich abgeschlossen von der Welt. Ihr erfahrt nur selten, wie die Menschen draußen sind. Das ist auch gut und hilft euch, in dieser schwierigen Phase der Jugendentwicklung, zu euch selbst zu kommen. Hier seid ihr nicht so abgelenkt von Unwichtigkeiten. Hier kann jeder mehr er selbst sein.

“Und weil du das Leben mit den Mädchen mit Gefühl und Festigkeit gelebt hast und viel daraus mitgebracht hast, möchte ich gerne, daß du auch die andere Seite kennenlernst. Wie wäre es, wenn du mal für ein viertel Jahr in einer Schlosserei arbeiten würdest? Bald wirst du 14 sein, und dann kannst du eine Art Lehr-Praktikum machen, ganz unter herben und derben Männern. Auch die Berufsschule besuchen, was dazu gehört.”

“Sind denn da keine Frauen?”

“Nein, man sagt, das ist kein Beruf für Frauen und Mädchen, da ist es zu derbe. Also die Männer sagen das, und die Frauen übernehmen diese Meinung einfach. Ich kenne den Leiter einer mittelgroßen Schlosserei weit weg von hier. Vielleicht würde er da mitmachen.”

Das ist mir aber unheimlich: Nun bekomme ich wirklich Angst. Wie würden diese Männer sein? “Herr Mihme ist doch nicht so. Oder ist er eine große Ausnahme, sozusagen ein Mädchen-Lehrer?”

“Ja, das glaube ich wohl, er ist eine große und schöne Ausnahme. Er ist gleichzeitig ein starker Mann und eine weiche Frau, ich meine als Mann stark und als Frau weich.”

Herr Kunze sagt dann:

“Alles in dem Mann-Sein bei den meisten Männern ist nicht echt, das wirst du merken. Herr Mihme aber ist ein ganz echter Mann, der auch seine innere Frau lebt und mit euch teilt. Die anderen aber spielen alle ein dickes Theater, spielen ihre Idee von Mann, oder wie sie es gelernt haben. Du wirst sehen: so werden Ideen oder Vorstellungen gemacht. Sie werden es auch mit dir versuchen, ganz einfach, weil sie es nicht anders kennen, und weil sie meinen, das wäre richtig.”

“Da muß ich mich doch wehren, ja?”

“Du wirst mit meiner Hilfe einen Weg finden. Wenn du Angst hast, wirst du dich da so durchschlängeln. Wenn du Mut hast, denkst und sagst du einfach: so bin ich nun mal, ich bin ich und bleibe so. Und: das oder das mache ich nicht mit oder sehe ich anders. Sie werden dich für überheblich halten. Doch so ist das Leben, nicht leicht.”

“Ja, ich will!” sage ich, doch Angst bleibt. Herr Kunze sagt noch etwas:

“Ob du Angst hast oder Mut, ob du schwach bist oder stark — für mich ist beides gut. Wichtig ist nur, daß du das erkennst und dazu stehen kannst.”

Ich bin nun häufiger bei Herrn Kunze. Einmal gehe ich zu ihm wie ich sehr traurig bin, ich weiß nicht woher das kommt. Da sagt er, “komm auf meinen Schoß und bleibe da ein wenig sitzen, lehne dich an.” Das ist das größte, das ich in diesen Jahren in Waldfels erlebe. Ich muß weinen, und er läßt die Tränen über mein Gesicht fließen. Nach ein paar Minuten ist alles wieder in Ordnung, und ich gehe hinaus ohne ein Wort, aber er weiß, daß ich dankbar bin.

Ein andermal frage ich ihn, woher er eigentlich kommt, wie es kommt, daß er so anders ist, so besonders, so hilfreich  . . .

“In den dreißiger Jahren bin ich nach Siam oder Thailand gegangen, als ich es hier bei den Nazis nicht mehr aushielt. Erst war ich da Lehrer an einer deutschen Schule, dann bin ich in ein buddhistisches Kloster gegangen. So bin ich, wie man so sagt, Buddhist geworden. Und so ist es gekommen, daß ich diese andere Einstellung zu Erziehung Jugendlicher habe. Frau Grabow habe ich auf einem Buddhistenkongress in Ceylon kennen gelernt, und als ich an diese Schule berufen wurde, habe ich sie eingeladen, Hochfels zu leiten, und sie kam. Sie ist auch Buddhistin wie ich.”

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Schwere Wochen in der Schlosserei

Was ist nun eine Schlosserei? Jedenfalls etwas ganz anderes als Herrn Mihme´s Werkstatt. In dieser großen Schlosserei werden Metallgegenstände gemacht und repariert, eben Schlösser und vieles andere. Es wird geschmiedet, geschweißt und gelötet, gefeilt und geschraubt und noch ungeheuer viel anderes. Unser Meister ist klein und alt, hat einen kleinen Schnurrbart und heißt Herr Blöße. Herr Blöße hält immer ein wenig Abstand von allen, er ist einerseits streng, doch auch lieb, so lerne ich ihn kennen. Er trägt bei der Arbeit einen blauen Werkanzug und eine kleine Schirmmütze mit einem ganz kurzen Schirm, wir alle tragen so einen Anzug.

In der Werkstatt ist es meistens laut von den Maschinen, die fast immer summen und schnurren, auch von dem Singen und Arbeiten der Männer, die da arbeiten, außer dem Meister sind wir neun: vier Gesellen, zwei Hilfsarbeiter, zwei Lehrlinge und ich als Praktikant. Als erstes bekomme ich einen blauen Arbeitsanzug, aber natürlich ist meiner kleiner als bei den anderen. Ich soll ihn nicht zu schnell dreckig machen. Denn dreckig ist es hier: es ist fettig und ölig, und alles ist voller Metallspäne. Da hilft das tägliche Ausfegen nicht viel, und selbst wenn wir am Sonnabend richtig sauber gemacht haben, reicht das nicht. So sauber wie bei Herrn Mihme wird es hier nie. “Ihr seid nicht zum Saubermachen hier sondern zum Arbeiten,” sagt Herr Blöße mal.

Ich werde einem alten Gesellen zugeteilt, Heinrich Lücke heißt er. Herr Blöße und er waren Soldaten im ersten Weltkrieg, aber diesmal durften sie zuhause bleiben, sie waren zu alt, und auch in der Heimat gab es viel zu tun. Wir sagen alle Sie zueinander — nur die Lehrlinge werden geduzt und duzen sich gegenseitig, ich auch. Die beiden sind wohl 15 etwa, etwas älter als ich, ihre Stimmen sind schon recht tief, nur ich habe noch eine so hohe Stimme, daß ich den Maschinenlärm leichter durchdringen kann als die anderen. Das ist manchmal gut, wenn schnell etwas durch die Halle gerufen werden muß. Dann kriege ich den Auftrag, laut zu rufen “abstellen”, “anstellen”, “halt” oder sonst was.

Herr Lücke war früher Seemann und im Krieg bei der Marine, so singt er immer noch “Auf Matrosen, ohé ...” und er rollt mit der Stimme wie die rollende See. Übrigens fällt mir dabei ein: hier werde ich nicht Rolli genannt sondern ganz normal Rudolf, das passt besser. Herr Lücke ist ein wenig herbe und furzt oft laut und genüßlich und lacht mich dann an. Der Meister mag das nicht so gerne, er ist feiner.

Einer der beiden Hilfsarbeiter ist Russe, er war Kriegsgefangener und wollte nach dem Krieg nicht zurück, wir nennen ihn Iwan, doch eigentlich heißt er anders, ich habe vergessen, wie. Und der andere ist ein großer freundlicher Neger, der mit den französischen Soldaten nach Deutschland gekommen ist und nach der Entlassung auch hier blieb. Was die beiden in Deutschland so schön finden, weiß ich nicht. Beide sprechen nicht viel Deutsch, es scheint, sie haben überhaupt nicht viel Lust zu sprechen. Aber Iwan raucht Unmengen von selbst gedrehten Zigaretten.

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Ein Lehrer aus Waldfels hat mich auf langer Bahnfahrt hierher begleitet. Es war mir ziemlich unheimlich am Anfang, eine so ganz andere Umgebung, diese anderen Leute in ihrer dreckigen Arbeit und mit ihren groben Worten. Auch für dieses Praktikum hat mir Herr Kunze ein Tagebuch mitgegeben, das ich aber nie mit in die Werkstatt nehme, nur auf meiner Bude behalte und nutze. Was ist nun meine Bude? In einem kleinen Altstadthaus mietete ich mir auf Herrn Blöße´s  Anraten eine kleine Kammer oben unter dem Dach, in der es zieht, und wo Mäuse kommen, um mir mein Brot wegzunehmen, und wo die Spatzen neben meinem Bett auf dem Dach rumkrakeelen, und es ist staubig und voller Spinnenweben — alles ganz anders als in den Schulen oder zuhause. Morgens bekomme ich in der Küche von Frau Meier, der das Häuschen gehört, ein kleines Frühstück mit Marmeladenbrot und heißer Milch und einen Apfel. Und sie schmiert mir einige dicke Stullen mit Schmalz oder Wurst für den Tag, die sie in Zeitungspapier einwickelt, zusammen mit ein paar Salatblättern. Etwas Obst ist auch dabei. Das alles für nur 5 Mark im Monat.

An den ersten Tagen war mir ziemlich elend, ich fühlte mich sehr allein und habe auch geweint vor Heimweh. Dann kam Frau Meier in meine Kammer und hat mich nach unten in die Küche geholt, wo wir abends etwas zusammen saßen — und sie erzählt, wie fast ihre ganze Familie vom Krieg aufgefressen wurde, wie sie sagt, ihr Mann blieb als Soldat in Russland, ihr zwei Söhne blieben als Marinesoldaten auf See ... Dennoch ist sie nicht immer traurig sondern lacht mit mir — oder besser für mich, denn ich mochte zuerst nicht lachen, es ist alles so traurig und kalt.

Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich so allein bin. Und in der Werkstatt ist es auch nicht leicht. Mit Iwan freunde ich mich etwas an, und er hilft mir, wenn meine Kräfte nicht reichen. Na ja, Herr Lücke hilft natürlich auch, denn ich gehöre ja zu ihm. Zuerst kommt wieder dieses Feilen an einem unförmigen Eisenklotz, “mach einen schönen würfelförmigen Klotz daraus, Rudolf,” sagt Herr Blöße am ersten Tag zu mir. Ich bekomme ein paar Feilen hingelegt, doch sie scheinen stumpf zu sein. Herr Lücke freut sich, daß ich die Feilen richtig anfasse, und ich bin strolz, daß ich das schon gelernt habe, bei Herrn Mihme — oh, Herr Mihme, Hochfels, wie ich daran denke, kommen mir schon wieder die Tränen vor Wehmut. Und dann wische ich mir über das Gesicht und die anderen lachen, denn ich habe mir alles schwarz gewischt mit der Hand.

Sie lachen auch, weil ich weine, nur Iwan und Herr Lücke fragen was mit mir los ist, und schluchzend gestehe ich mein Heimweh. Iwan nimmt mich in seine Arme und hält mich ein wenig bis mir besser wird. Er meint, er hat auch viel Heimweh, doch in das Stalin-Land könne er nicht zurück, und er fährt sich mit dem Finger über seine Kehle, womit er sagen will, da werden sie ihn gleich töten. “Und hier bei euch Deutschen ist es auch ganz in Ordnung.”

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Den ganzen Tag feile ich an dem Klotz, und langsam bekommt er die Form, die er haben soll, doch ich bin nicht begeistert vom Ergebnis, es geht so langsam. Herr Lücke meint aber, “das geht dir ja sehr schnell von der Hand, wo hast du das denn schon alles her?” Das macht mich wieder ruhiger und ich feile weiter. Zögernd sage ich, “sind die Feilen vielleicht stumpf?” Herr Lücke prüft sie mit dem Finger und gibt mir ein paar bessere, “das sind die besten in meiner Schublade. Es gibt keine neuen, und der Feilenhauermeister ist noch nicht aus der Gefangenschaft zurück, und der eine Geselle in seiner Werkstatt ist überlastet.”

Meine Hände, die früher so fein und sauber waren, sind nun bis in alle Rillen mit Öl verschmiert, und obwohl ich sie mehrmals am Tag wasche — wir haben da eine Art Sand mit Seife drin, eine Paste — und abends eincreme: richtig rein und glatt werden sie nie, selbst am Sonntag nicht. Übrigens: bei der alten Frau Meier gibt es nur eine Waschgelegenheit: in der Küche ein Steinbecken mit kaltem Wasser, das warme Wasser machen wir uns auf dem Herd zurecht, der mit Stadtgas geheizt wird. Hier wäscht Frau Meier sich, und ich, und ihre Tochter auch, wenn sie zu Besuch ist, sie ist so etwa Mitte 20, und sie wird wohl nie einen Mann bekommen, denn so viele junge Männer ihres Alters sind ja im Krieg gestorben. — Hier wasche ich auch meine Wäsche, und das alles ist schon sehr, sehr viel anders als in Hochfels. Das sind die zwei Seiten meines eigenartigen Lebens. — Und ein kleines Klohäuschen ist auf dem Hof, und ich muß immer einen Eimer mit Wasser mitnehmen zum Spülen.

Wir reparieren auch Fahrräder, sehr viel. Und Herrn Blöße gelingt es immer wieder, Ersatzteile zu bekommen, oder manches machen wir auch selbst. Die Wirtschaft in Deutschland ist so schlecht dran, daß wir das meiste, was wir in der Werkstatt brauchen, nur nach langem Suchen kaufen können. Für mich ist das aber eine gute Gelegenheit, alle diese Feinheiten der Metallarbeit bis ins Einzelne kennenzulernen. Wie Herr Lücke sagt, sind meine Hände sehr geschickt in diesen Dingen. Oft gibt er mir eine Arbeit, für die ich ganz feine Feilen benötige, Schlüsselfeilen. Da hat Herr Blöße mal eine großen Satz bekommen, aus einer Uhren-Fabrik, die durch den Krieg zerstört war, aber ein Lager blieb erhalten und wurde für die Handwerksbetriebe geöffnet. So sind die Zeiten.

Mit den anderen Männern in der Werkstatt habe ich nicht viel Kontakt, da ich aber der kleinste bin, der jüngste und der am wenigsten weiß in diesem Fach, höre ich auch manchen Spott, und ich weiß nicht immer, ob der freundschaftlich ist oder herablassend oder gar böse. Manches macht mich ziemlich betrübt, und an manchem Abend gehe ich traurig und bedrückt in mein Zimmerchen. Es ist eine alte Sitte im Handwerk, daß der Jüngste allerlei Botendienste für die anderen tun muß, Bier holen, Ausfegen, die Arbeitskleidung zur Wäscherei bringen und abholen und alle solche Sachen. Gut, ich bin hier um diese Lebensart zu erfahren, nicht nur um das Handwerk zu lernen, doch mir sind das keine lieben Erfahrungen. Die beiden Lehrlinge sind froh, daß sie einen Jüngeren haben, dem sie unangenehme Aufgaben geben können, die sie vorher selbst erledigen mussten, wie Waschbecken und Klo reinigen.

Auch wird allerlei Scherz mit den Jungen getrieben, mit mir am meisten. So soll ich mal ein paar Straßen weiter in eine andere Werkstatt gehen und die große “Gummifeile” holen, oder den “Birnenhammer” oder so´n Unsinn. Manchmal falle ich drauf rein, manchmal merke ich den Scherz aber rechtzeitig und lache den Auftraggeber aus, und dann lachen wir alle, und es wird etwas fröhlicher.

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Während der Arbeit trage ich immer lange Hosen, um meine Beine zu schützen, aber auch, weil es einfach so ist. Doch in den freien Zeiten, am Sonntag und abends ziehe ich eine kurze Hose an, damit meine Beine wieder Luft bekommen, kurz und weit und luftig. Ich habe sie früher mal von einem älteren Jungen bekommen, für den sie Uniformhose beim Jungvolk war, sie hat viele Taschen und ist etwas graulich, sie ist sehr praktisch und angenehm. Und dann wieder ziehe ich meine Wanderkluft an, um meine Seele ein wenig zu heilen und zu wärmen, im Rock statt dieser graulichen Jungvolkhose.


nochmal in meiner Wanderkluft

Und dann gehe ich in die Umgebung, den Wald oder zwischen die Felder. Das ist dann etwas wie Heimat, besonders wenn ich diese Kluft anhabe, warme Gefühle  .  .  .  Dankbarkeit.

Und das ist zuerst fast meine einzige Freude — bis Frau Meier mir ein Fahrrad ihrer Söhne leiht, mit dem ich in der Gegend umherfahren kann — dafür bringe ich ihr dann Blumen mit oder mache ein paar Besorgungen, wenn ich noch nicht zu müde bin. Selbst an kalten Tagen — es ist ja Mai und nicht immer warm — ziehe ich in der Freizeit manchmal die kurze Hose an oder die Wanderkluft. Meine Beine sind eben das Empfindlichste an mir und leiden am ehesten — ich meine, sie sind am leichtesten traurig und mißgelaunt und würden sich über ein wenig Wärme und Liebe freuen. Doch ich brauche den Gegensatz zum Leben in der Werkstatt, deswegen immer die kurze Hose oder den Wanderrock.

Insgesamt also finde ich das Leben hier langweilig und grob und öde. Es fehlt viel Feines, was ich sonst bekam, in den Schulen und zuhause, es fehlt Farbe, wie man sagen könnte. Nach drei Wochen aber ändert sich etwas, wie ich nämlich abends die Werkstatt verlasse, kommt ein Mädchen, das etwas größer ist als ich, und springt lustig auf Herrn Blöße zu, den sie unterhakt und mitnimmt. Er ist ganz begeistert, dreht sich nochmal um und sagt uns voller Stolz, “das ist meine liebe Enkelin Hermine, sie war so lange verreist. Nun ist sie wieder hier und ich bin so froh,” und er sieht sehr glücklich aus, so wie ich ihn noch nie sah.

Hermine hat mich plötzlich verändert, scheint mir, nur dadurch, daß ich sie hier sah. Die beiden verschwinden schnell, aber nun holt sie ihren Opa jeden Abend ab, und am dritten Abend spricht sie mich an, und ich bin verlegen und gerührt, und bleibe ganz stumm. Doch sie sagt, “sieh mich mal an, in die Augen,” und dann, “möchtest du mitkommen und bei uns zu Abend essen? — nicht wahr, Opa, das geht doch?” Er brummt und meint, “eigentlich geht das nicht, Rudolf ist doch ein Praktikant. Doch weil sein Schulleiter, Herr Kunze, mein Freund ist, mag das wohl gehen — so komm mit.”

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Er wohnt mit seiner Frau in einem alten Mietshaus in einer kleinen Wohnung mit einem dicken Kachelofen, doch der ist nun kalt, und das Abendessen ist so einfach wie in Waldfels: Pellkartoffeln mit Quark und Schnittlauch drauf, und daneben liegt ein halber eingelegter Hering. “Manchmal lasse ich noch Speck aus und gieße das über die Kartoffeln, heute haben wir aber keinen Speck im Haus,” sagt Frau Blöße. Nachher nimmt Hermine mich auf einen Spaziergang. Erst sind wir still und wandeln durch den Wald mit all seinem Vogelgesinge, Kuckuke und Tauben rufen ihre Laute, und in den vielen kleinen Tümpeln quaken die Frösche. “Hier, dies ist mein Wald, hier habe ich als Kind oft gespielt, hatte mit einer Freundin eine Burg, wie wir sagten, vielleicht finden wir noch die Reste.” An einem versteckten Platz sind ein paar alte Stecken zusammen gebunden, “hier ist es ja noch, wie lange solche Sachen manchmal halten ...”

Wir setzen uns vor die Burg auf den Waldboden mit all den alten Blättern, und sie fragt mich, woher ich komme, und warum ich hier bei ihrem Opa in der Werkstatt bin. Ganz wenig erzähle ich davon, doch ich habe keine Lust zu langem Reden, und so sind wir wieder still — und legen unsere Hände ineinander bis Ameisen darüber klettern und es kitzelt. “Du hast ein schönes Gesicht,” sagt Hermine und streichelt leicht meine Wangen, “wie weich sie doch sind, wie bei einem Mädchen, schön. Du siehst wirklich ein wenig wie ein Mädchen aus, ich mag das! Ist dir das unrecht, daß ich sowas sage?”

“Nein, ich höre das gerne. Weißt du, ich war mal Mädchen, für ein halbes Jahr, und ich habe das sehr genossen. Mädchen sind das Wichtigste für mich, und manchmal habe ich den Wunsch, sie nachzuahmen, so wie sie zu sein.” Und ich erzähle ihr meine Geschichte aus Hochfels, und daß ich mich sehr dahin zurücksehne, und ich beginne fast wieder zu weinen vor Sehnsucht. Hermine merkt das und nimmt mich tröstend in die Arme, und nun darf ich endlich wieder einmal diese Freude genießen. “Hier bei all den Männern versuchen sie dir einzureden, daß du wie ein Mann sein sollst, aber warum denn? Laß sie reden, sei wie du bist, eben ein 14-jähriger Junge und mehr nicht, auch nicht weniger, einfach so wie du bist.” Ich bin dankbar, daß es auch hier eine gibt, die sowas sagt.

Ich sage stockend, denn wie kann ich wissen, was sie von meinen Gedanken hält: “so viel Liebe habe ich in mir, in meiner Seele. Ich LIEBE immer alles und alle, du, das ist manchmal sehr anstrengend, weil die Menschen das nicht verstehen und ich dann lieber ruhig bin. Wenn ich sage, ich liebe dich, dann meine ich das nicht wie üblich, sondern: du bist ein Teil dieses Ganzen, das ich liebe, alles ... auch die einzelnen Teile. SO sollst du verstehen, wenn ich sage, ich liebe dich, wenn auch ein sehr schöner Teil.” Hermine versteht das sehr wohl und wollte mir schon etwas ähnliches sagen.

So holt sie aus ihrer Tasche einen Zettel, auf den sie geschrieben hat, was sie mir nun vorliest: "... sie unterhielt sich mit mir über Hermann und über die Kindheit, über meine und ihre, über jene Jahre vor der Geschlechtsreife, in denen das jugendliche Liebesvermögen nicht nur beide Geschlechter, sondern alles und jedes umfasst, Sinnliches und Geistiges, und alles mit dem Liebeszauber und der märchenhaften Verwandlungsfähigkeit begabt, die nur Auserwählten und Dichtern auch noch in späteren Lebensaltern zuzeiten wiederkehrt.”

Ihre Mutti ist Lehrerin und hat diese Sätze in einem Roman von Hermann Hesse gefunden, “im Steppenwolf”, sagt Hermine. “Und weißt du, wer das sagt in dem Roman? Sie heißt Hermine — und meine Eltern haben mir meinen Namen nach diesem Mädchen gegeben, so verehren sie sie. Meine Mutti ist die Tochter von meinem Opa Blöße, deinem Meister. Du mußt meine Eltern mal kennen lernen, mein Vater ist Kraftfahrzeugmechaniker, weißt du, und er hat einen großen Betrieb, der zur Zeit wahnsinnig schnell wächst, und da sehe ich meinen Papi selten, leider, er ist ein so schöner Mann! — aber so arbeitsam.”

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Es ist nun nicht so, daß sich niemand weiteres um mich kümmert, nein, denn ich muß sowohl Herrn Kunze als auch meinen Eltern zweimal in der Woche einen kurzen Bericht schreiben. Und besonders Herrn Kunze schreibe ich fast alles, wie es mir ergeht, auch das Traurige, auch das Schöne mit Hermine, der Bericht ist also meistens lang. Er schreibt mir denn auch, daß er sich schnell im Steppenwolf — er hat alle Bücher von Hermann Hesse — die Stelle rausgesucht hat und mir gratuliert, daß ich eine so verständige Freundin gefunden hätte. Hermines Mutter, Frau Marquardt, ist eine sehr feine Frau, und ich kann sie mir sehr gut als Lehrerin vorstellen. Ich bin wirklich glücklich, daß es hier diese Leute gibt und ich sie gefunden habe. Herrn Marquardt sehe ich selten und weiß nichts weiter über ihn außer daß er “arbeitet wie ein Roß” wie Hermine sagt.

Doch noch jemand kümmert sich um mich: die kleine Helga aus Hochfels schreibt mir ab und zu, und natürlich ich ihr auch. Neulich kam ein Brief, und da war auch eine Ansichtskarte drin von einer schönen Tanne im Schnee. Der Brief: “Lieber Rolli, mir scheint, es geht dir nicht gut da bei all den Männern. Ich würde gerne mal bei dir sein und dir etwas Weibliches geben, damit es dir besser geht. Hier ist alles wie immer — nein doch nicht: ich wachse, und mein Busen ist nun schon etwas größer und seine Spitzen (ich mag nicht Warzen schreiben, das ist so dämlich) bekommen mehr Farbe, ist das nicht etwas Wundervolles? Und ich trage nun richtige Perlons und so einen damenhaften (hi, hi) Strumpfhaltergürtel mit lauter Spitzen dran, wie alle, habe mich breitschlagen lassen, weil es hier `so Sitte´ ist.” Und nachdem ich ihr über Hermine geschrieben habe: “Das finde ich sehr schön, daß du ein so schönes und warmes Mädchen kennen gelernt hast, ich freue mich für dich — obwohl ich dich auch weiter liebe, darf ich doch? Und ich hoffe, daß du nun keinen Rock mehr anhast, denn nun bist du bestimmt schon ziemlich großer Junge, da passt das nicht mehr. Und vielleicht hast du schon eine tiefe Männerstimme ...” — habe ich noch nicht, und so ist es auch schön. Und mit der Wanderkluft trage ich doch meinen Rock und will auch dabei bleiben – das ganze Leben.

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Es gibt aber auch “warme” Tage in der Werkstatt, wenn alle fröhlich sind und in ihrer Sprache Rücksicht nehmen auf mich. Denn ich habe es ziemlich klar gemacht, daß ich das grobe Sprechen nicht gerne mag, und das haben die anderen angenommen, jedenfalls an Tagen, wenn es ihnen gut geht. Doch einmal hat mich einer von den Gesellen so in Wut gebracht mit ein paar sehr blöden Bemerkungen, daß ich an zu schreien fange und ihn heftig beschimpfe, ihn unter laufenden Tränen anschreie und mit geballten Fäusten auf ihn losgegangen wäre, wenn ich nicht so viel kleiner wäre. Erst lacht er mich aus mit Worten wie “Heulsuse” und so, doch als ich ihm dann sage, “Sie können ja gar nicht weinen, und wenn Sie weinen könnten wie ich, dann würden Sie die Qualen, die Ihnen der Krieg gemacht hast, endlich mal wieder loswerden und sich nicht nächtelang mit Alpträumen rumquälen müssen.” Das hat ihn sehr ernst werden lassen, und am nächsten Tag hat er mich um Entschuldigung gebeten und sich bedankt, daß ich ihm einen neuen Weg gezeigt hätte und so weiter, und wir haben uns schließlich unter Tränen umarmt, der Große mich Kleinen!

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Das war an einem Freitag und Samstag, wir arbeiten ja am Samstag bis mittags, wie alle, auch die Schulen übrigens. Immer noch war ich sehr erregt von dieser Sache, und als ich später mit Hermine in den Wald ging, erzähle ich ihr das Ganze und werfe mich schließlich schluchzend an ihre Brust, und sie streichelt mich und lässt mich heulen bis alles vorbei ist und ich vom Heulen sofort ins Lachen übergehe und lache wie noch nie. Und wirklich, nun ist alles vorbei. Wir suchen einen sonnigen Platz am Waldrand und legen uns hin zum “Braunwerden”. Erst schlafe ich mal ein und wie ich aufwache, ziehe ich mein Hemd aus und lasse die Sonne an Brust und Rücken, und dann streichelt und massiert Hermine mir den Nacken.

Und nun knöpfen wir gemeinsam meine Strümpfe los und rollen sie runter, und sie streichelt meine Beine und sagt, “du hast wirklich schöne Beine, `schwarz-braun wie die Haselnuß´ in dem Lied. Wie machst du das? Ich bekomme nie so braune Beine,” und sie zieht ihren Rock hoch und lässt die Sonne auch an ihre Beine. Dann geht sie mit den Fingerspitzen ganz leicht an meinen Beinen entlang und streicht an der Innenseite der Oberschenkel bis an den Rand der Hose, und das ist etwas besonders Schönes und Genußreiches, ein himmlisches Gefühl. So sind diese Tage in der Stadt der Metallwerkstatt! Gerade in diesem Moment bin ich sehr dankbar.

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Nach drei Monaten ist das Praktikum zuende und ich reise zurück nach Waldfels. Dieses Mal reise ich allein, das habe ich mir so gewünscht — irgendwann muß ich das doch können. Und nach vielem Umsteigen und Warten auf öden Bahnhöfen komme ich schließlich an, und Herr Kunze holt mich vom Bahnhof ab, es ist ein sehr herzliches Wiedersehen. “Hallo Rolli, du bist gewachsen, weißt du das?” Er nimmt mir meinen Koffer ab, und das wundert mich sehr, “einem so weit Gereisten darf ich doch wohl den Koffer abnehmen, das ist doch was Besonderes! Für mich ist es eine Ehre, dir heute den Koffer abzunehmen.” “Ach, Sie sind doch viel weiter gereist.” Natürlich weiß ich, daß seine Reisen nach Asien etwas ganz anderes waren. — Ich bin froh, denn ich habe nun viel überstanden und kann mich wieder meinen normalen Dingen widmen und lernen. So weit habe ich nun meine Berichte über die Absonderlichkeiten meines Lebens als Gymnasiast abgeschlossen. Unten werdet Ihr zur Orientierung noch die Namen der genannten Personen finden.

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Jahre später, nach dem Abitur, beginne und beende ich tatsächlich eine Schlosserlehre, um danach noch einen anderen Beruf zu lernen. Das Handwerk hilft mir sehr im ganzen Leben, ich bin Herrn Blöße und Herrn Lücke sehr dankbar für ihre Hingabe an meine Arbeiten und die Lebenslehren bei ihnen. Und besonders den Mädchen auf meinem Weg verdanke ich meine Offenheit für die Seele der Frauen, na, für die Seele der Männer auch, doch das ist noch etwas anderes — doch kennen habe ich die Mädchen und Frauen nicht gelernt, das geht wohl nicht, wie uns Herr Kunze vor Jahren mal sagte.

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Personen in der Geschichte


Personen in Hochfels:
Leiterin: Frau Grabow (Buddhistin, Menschenkunde, Biologie),
Erzieher/innen: Fräulein Päckelmann (Handarbeit, Basteln), Herr Mihme (Schlosserei), Frau Mecklin (Musik), Fräulein Mansfeld (Biologie, Erdkunde), Frau Deepen (Sport), Frau Kopischke (Gärten) und noch zwei Gärtnerinnen,
Stamm-Mutter: Fräulein Mansfeld, Mädchen in ihrem Stamm: kleine Helga, Henriette, Katrin, Marianne, Rollia (also ich), Martina, Federike, Petra, Carla und ihr Hund Frieda. Da ist noch der Zwillingsbruder von Kleiner Helga, der aber in Waldfels zur Schule geht,
andere Mädchen: Bärbel + Clara, Katharina, Große Helga, Clarissa, Berta, Leonore (Rollstuhl), Regina (Naturschutz-Gilde), Monika
in Rollia´s Klasse: Lisa, Kleine Helga.


Personen in Waldfels:

Leiter und Oberleiter: Herr Kunze (Buddhist),
Erzieher/innen: Herr Mirkin, Fräulein Groth,
Schüler: Franz, Peter, Rolli (alle drei gehen zur selben Zeit nach Hochfels, Rolli heißt eigentlich Rudolf, in Hochfels aber Rollia).


Personen in der Metallwerkstatt:

Herr Blöße, der Meister,
Heinrich Lücke, mein Lehrgeselle,
drei weitere Gesellen,
Iwan, der russische Gehilfe,
ein weiterer Gehilfe aus Frankreich,
zwei Lehrlinge.


und sonst in der Stadt der Metallwerkstatt:
Frau Meier, meine Vermieterin,
Frau Marquardt, Herrn Blöße´s Tochter,
Hermine, Frau Marquardt´s Tochter,
Herr Marquardt, der Vater von Hermine.

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